
4. Ausgabe 2022 | Nr. 87
Der akustische Film: Die Geschichte des Hörspiels
von Anke, Spuk und Radio Drama
Deutschland – eine Hörspielnation. Zu Bett gebracht von Justus Jonas und den drei Fragezeichen, beschützt von Geisterjäger John Sinclair und durchgeschüttelt von nervenaufreibenden Klangexperimenten in öffentlich-rechtlichen Medien. Die Chronik einer unterschätzten, geliebten und wiederentdeckten Kunstform
Die US-amerikanische Filmproduktionsfirma Monkeypaw Productions – durch Horror-Hits wie Get Out und Wir zum Kassenmagneten mutiert – veröffentlicht Ende 2022 ihren ersten Podcast, exklusiv auf dem Streamingdienst Spotify. Die englischsprachige Podcast-Serie Quiet Part Loud, wird als „one of the scariest podcasts of all times“ gefeiert, eine der gruseligsten Podcasts aller Zeiten. Nach einem Bericht der L.A. Times, hatte die erste Staffel (insgesamt vier Stunden Laufzeit) ein Produktionsbudget von umgerechnet knapp 535.000 €. Die produzierdende Firma Monkeypaw bekommt laut Artikel eine Pauschale von umgerechnet knapp 1,31 Millionen €. Dass eine deutschsprachige Hörspielserie – und nichts anderes ist ein seriell erzählter Fiction-Podcast – dermaßen umjubelt wird, passiert hierzulande eher selten. Wenn nicht sogar nie. Dabei wird das deutsche Hörspiel nun 100 Jahre alt und kann über den Boom englischsprachiger Fiction Podcasts in den letzten Jahren nur müde lächeln. Kurzformate, Langformate, Klangexperimente, Lesungen – inszeniert und trocken, Horror, Fantasy, Thriller, Mystery – das deutsche Hörspiel hat alles schon gesehen. Und angefangen hat alles mit … Ja, mit wem eigentlich?
[▸] Kassette 1, Seite A: Clément
1881: Erfinder und Luftfahrtpionier Clément Ader wird später zugeschrieben werden, das Wort Avion (Flugzeug) in der französischen Sprache etabliert und die Luftfahrt maßgeblich mitgeprägt zu haben. Für verkappte Medienchronisten der Zukunft ist Clément aber interessant, weil er mit dem Theatrophon technisch die Erfindung des Radios vorwegnimmt. Das Theatrophon überträgt Musikveranstaltungen – in Stereo. Am Bühnenrand stehen Mikrofone, ein Satz links, ein Satz rechts. Am anderen Ende sitzt das Publikum und empfängt die Signale entsprechend auf der linken und rechten Hörmuschel. Die Technik wird später kommerzialisiert und erhält Aufwind durch den Ausbau des Telefonnetzes in Frankreich. Der Untergang der Technik ist mit dem Aufkeimen des Hörfunks besiegelt.
An dieser Stelle scheiden sich die Geister. Anfang der 1920er gibt es im englischsprachigen US-Raum bereits zahlreiche Radioübertragungen von Musicals und dergleichen. Definieren wir Hörspiel aber als dezidiert zum Hören konzipiertes und nicht nur abstrahiertes Werk, beginnt die Geschichte des Hörspiels auf der anderen Seite.
[▸] Kassette 1, Seite B: Anke
1923: Die Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie m.b.H. bereitet schon seit Jahren Theaterstücke für den Rundfunkgebrauch auf. In den Experimentalstudios allerdings tüftelt Ingenieur F. A. Tiburtius an etwas Neuem. Erst später wird sich dafür der Begriff Hörspiel durchsetzen. Sein eigens für das Ohr erdachte und inszenierte Stück heißt „Anke“ und spielt in einem Leuchtturm. Viel mehr wird die Nachwelt nicht davon erfahren, denn es wird nie aufgeführt.
[▸] Kassette 2, Seite A: Gefahr
1925: Am 24. August strahlt die Nordische Rundfunk AG das Hörspiel „Gefahr“ aus. Das Stück ist eine Adaption des britischen Hörspiels „A Comedy of Danger“ (BBC, 1924), welches in Nachbetrachtungen als erstes europäisches Hörspiel gilt; „Anke“ war unbekannt. Die Prämisse: Drei Menschen sind in einem dunklen Bergwerk gefangen und warten auf Rettung. Zu diesem Zeitpunkt entwickelt sich das Radio Drama auch in den USA weiter, etwa mit der ein Jahr vorher gestarteten Serie „The Wolf“. Deutsche Hörspiele sind unter anderem auch „Spuk“, „Zauberei auf dem Sender“ und das mit handgemachten Wassergeräuschen veredelte „Der akustische Film“ auf dem Berliner Sender. Der Begriff Hörspiel ist an diesem Punkt recht neu. Hans S. von Heister führte den Begriff erstmals in der Zeitschrift Der deutsche Rundfunk ein und löste damit Begriffe wie Funkdrama oder Sendungsspiel ab.
[▸] Kassette 2, Seite B: Krieg der Welten
1938: Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Hörspiel bereits etabliert und zum weltweiten Phänomen entwickelt. Das deutsche Radio hat ein Faible für Katastrophen-Szenarien im Radio entwickelt, die Briten beschweren sich über ein Hörspiel-Überfluss und in Fachaufsätzen wird diese neuenKunstform als Ausdrucksmittel von Menschen wie Bertolt Brecht diskutiert. All das wird in Zukunft aber zu nischig und theoretisch und zu deutschsprachig bleiben – im Vergleich zum Radio-Happening „War of the Worlds“, Krieg der Welten, von Orson Welles, das am 31. Oktober um 20:00 Uhr startet. Bestandteil der Inszenierung ist der fiktive Bericht des ebenso fiktiven Radioreporters Carl Phillips über die Ankunft von fliegenden Untertassen. Die vermeintliche Invasion verunsichert zahlreiche Menschen und ruft die Polizei auf den Plan. Die später beschriebene Massenpanik ist eher der Schreibwut der Presse geschuldet.
[▸] Kassette 3, Seite A: Nach dem Krieg
1945: Nach Kriegsende ist ein Gros der deutschen Hörspielkultur verloren. Die Archive sind zerstört. Das Studio Hamburg sendet eine Adaption von „Der Hauptmann von Köpenick“. Zum Sprecher-Ensemble gehört Schauspielerin Inge Meysel.
1950: Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ARD) wird gegründet und etabliert sich, bis in die Gegenwart, als mitunter größte Triebfeder für die Hörspielkultur und wirft Stand 2022 etwa 300 Hörspiele und Radio-Features in den Äther.
[▸] Kassette 3, Seite B: Europa
1966: Das Aufkommen des Fernsehens verdrängt Hörspiel-Ambitionen sowohl im deutschsprachigen als auch im englischsprachigen Raum. Fünf Jahre zuvor ermutigte der Medienwissenschaftler Friedrich Knilli zu einem neuen Hörspiel und das literarische Hörspiel beiseitezulegen. Mehr Geräuschkulissen, mehr Inszenierung, mehr Unterhaltung. Infolge tritt das Label Europa seinen Siegeszug an und veröffentlicht die ersten Kinder- und Jugendhörspiele, darunter Adaptionen wie „Die Schatzinsel“. Damit baut das Label einen bis in die Gegenwart haltenden Eckpfeiler deutscher Hörspielkultur.
[▸] Kassette 4, Seite A: Die drei ???
1979: Am 12. Oktober erscheinen die ersten sechs Folgen einer Legende. Mit der Adaption der US-amerikanischen Jugendbuchreihe „The Three Investigators“ startet das Label Europa einen Dauerbrenner: „Die drei ???“ sind die drei Teenager Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews. Sie sind die drei Detektive, lösen knifflige Fälle in der fiktiven US-Küstenstadt Rocky Beach – und lassen die Kassen klingeln. Knapp vierzig Jahre, 219 reguläre & zahlreiche Sonderfolgen später ist die Marke in Merchandise, auf Theaterbühnen und ins Kino expandiert.
[▸] Kassette 4, Seite B: Neumann, 2x klingeln
1983: Nach 678 im Radio ausgestrahlten Folgen flimmert mit „Wie ein Vogel im Wind“ die letzte Episode der DDR-Hörspiel-Serie „Neumann, 2x klingeln“ über den Äther. Familie Neumann bildet 14 Jahre lang, jeden Samstagabend, den sozialistischen Querschnitt der DDR ab – und das mit sehr viel Humor und versteckten Seitenhieben auf das System.
[▸] Kassette 5, Seite A: Edition 2000
2000: „Geisterjäger John Sinclair – Edition 2000“ geht an den Start. Namhafte Synchronsprecher wie Frank Glaubrecht (dt. Stimme Al Pacino) schlüpfen in Hauptrollen. In der Regie sitzt ein gewisser Oliver Döring, der Jahre später als Maßstab für das vielzitierte Kino für die Ohren gelten wird. Zahlreiche andere Serien ähnlicher Bauart ziehen nach. Das kommerzielle Hörspiel entwächst erneut der Kinderabteilung.
[▸] Playlist: New Media
In der Gegenwart ist das Hörspiel noch immer ein Hörspiel, das angelsächsische Radio Drama hingegen erlebt durch Streamingdienste eine Renaissance – oder eher eine Reformation. Denn Podcast „catcht“ mehr. Infolge feiern sich Konzerne wie Marvel nun dafür, Hörspielserien als Exclusive Radio Drama oder als Horror Podcast usw. anzubieten. Mit der Folge, dass erfolgreiche Serien als TV-Serie adaptiert werden.
Aber keine Sorge, Kassetten und Vinyl feiern ja schon ihr Comeback.
Robert Gryczke
Quellen: „Movieweb.com“, „Why Jordan Peele’s …“ vom 21.11.2022; LATimes.com, „Why horror-film maestro …“ vom 18.11.2022; AvionsLegendaires.net, „Clément Ader“, abgerufen am 22.11.2022; Wikipedia.org, „Theatrophon“, abgerufen am 22.11.2022; Wikipedia. org, „Radioplays“, abgerufen am 22.11.2022; HistoryRadio.org, „The golden age …“, abgerufen am 22.11.2022; Audioboom.com, „A Comedy of Danger ...“ vom 22.12.2014; Hoerspiel.com, „Geschichte“, abgerufen am 22.11.2022; Web.ARD.de, „Chronik der ARD ...“, abgerufen am 22.11.2022; GRIN.de, „Das neue Hörspiel“, 2008; Zauberspiegel-Online.de, abgerufen am 22.11.2022; Diskussionspapier „Die Hörspielserie …“, Januar 2020; MDR.de, „Neumann, 2x klingeln“ vom 04.03.2021