
3. Ausgabe 2022 | Nr. 86
ELIZA: Die Geschichte der Künstlichen Intelligenz
Von Imitation Game, softer KI und harten Fakten
Pinocchio erwacht zum Leben. Magie. Ein Computer erwacht zum Leben. Wissenschaft. Künstliche Intelligenz gehört zum Alltag dazu. Gefühl. Die Chronik einer Wunschvorstellung.
Juli 2022 titelt das IT-Magazin Heise: „Chatbot-KI LaMDA: Google entlässt Blake Lemoine“. Ein guter Moment, um sich kurz mit der Historie von KI zu beschäftigen.
Installationsdatei: Künstliche Intelligenz
Schwache KI: „Die schwache KI (auch als methodische KI bezeichnet) besitzt keine Kreativität und keine expliziten Fähigkeiten selbstständig im universellen Sinne zu lernen. […] Trainieren von Erkennungsmustern (Machine Learning) […] und Durchsuchen von großen Datenmengen […].
Auch digitale Assistenzsysteme wie Alexa, Siri und Google Assistent gehören zur Kategorie der schwachen KI.“ (aus: „Schwache vs. Starke KI“, Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt)
Starke KI: Wäre eine „echte“ Künstliche Intelligenz, die ein Bewusstsein hat und ‘Erlerntes‘ auch außerhalb der angegebenen Aufgabenfelder einsetzen kann. Pure Zukunftsmusik – wenngleich auch eine spannende.
Datensatz 1: Hephaistos Ex Machina
????: In der griechischen Mythologie schmiedet der Gott Hephaistos Talos, eine riesige belebte Bronzestatue, die die Insel Kreta beschützen soll. In der nordischen Mythologie stellt sich der aus Lehm gemachte Riese Mistcalf dem Donnergott Thor entgegen. Aus Lehm besteht auch der legendäre Prager Golem, der im 16. Jahrhundert von Rabbi Löw geschaffen wurde, um die jüdische Gemeinde zu beschützen.
1872: In seinem Roman „Erewhon, or Over The Range“ beschreibt Autor Samuel Butler eine Gesellschaft, die Angst vor moderner Technologie jedweder Art hat.
1881: Carlo Collodis (vermeintliches) Kinderbuch „Pinocchio“ präsentiert eine Marionette, die plötzlich ein Bewusstsein entwickelt und menschlich werden will. Hat nicht per se etwas mit Technologie zu tun, erinnert aber auch nicht zufällig an viele spätere Sci-Fi-Storys mit ähnlicher Prämisse; siehe Der 200-Jahre-Mann von Isaac Asimov.
1920: Das Bühnenstück „R.U.R. – Russum’s Universal Robots“ gebärt den Begriff „Robot“ und beschreibt innerhalb seiner Fiktion aus synthetisch hergestellter Materie geschaffene künstliche Menschen mit einem eigenen Bewusstsein. In der Gegenwart würde man eher „Android“ dazu sagen.
Datensatz 2: The Imitation Game –
Der Turing-Test
1949: Die BBC titelt „Electronic Brain“ und berichtet über die erfolgreich durchgeführte mathematische Operation des Computers Manchester Mark I. Zu dessen Entwicklern gehört der britische Mathematiker Alan Turing, der bereits im Zweiten Weltkrieg dabei half, die verschlüsselte Kommunikation der deutschen Armee zu dechiffrieren.
1950: Alan Turing veröffentlicht im Fachmagazins Mind einen knapp 22-seitigen Aufsatz mit dem Titel Computing
Machinery and Intelligence (Rechenmaschinen und Intelligenz).
Datensatz 2: The Imitation Game – Der Turing-Test
1949: Die BBC titelt „Electronic Brain“ und berichtet über die erfolgreich durchgeführte mathematische Operation des Computers Manchester Mark I. Zu dessen Entwicklern gehört der britische Mathematiker Alan Turing, der bereits im Zweiten Weltkrieg dabei half, die verschlüsselte Kommunikation der deutschen Armee zu dechiffrieren.
1950: Alan Turing veröffentlicht im Fachmagazins Mind einen knapp 22-seitigen Aufsatz mit dem Titel Computing Machinery and Intelligence (Rechenmaschinen und Intelligenz).
”I propose to consider the question, ‘Can machines think?‘” This should begin with definitions of the meaning of the terms ,machine‘ and ,think‘.
(„Ich schlage vor, über die Frage nachzudenken: ,Können Maschinen denken? Dies sollte mit Definitionen der Bedeutung der Begriffe ,Maschine‘ und ,Denken‘ beginnen.“)
Darin beschreibt er die theoretischen Grundlagen, um einen Computer auf menschliche Intelligenz zu überprüfen. Er nennt diesen theoretischen Test The Imitation Game (Das Nachahmungsspiel). Ein Mensch führt via Tastatur und Bildschirm zwei Gespräche – eines mit einem echten Menschen, eines mit einem Computer. Erkennt der Proband nicht, welches Gespräch mit einem Menschen und welches mit einer Maschine geführt wurde, gilt der Test als bestanden. Später nennt man das Verfahren Turing-Test.
Datensatz 3: The Dartmouth Workshop
1956: Die Rockefeller Stiftung stellt 13.500 US-Dollar an Projektmitteln zur Verfügung, für ein Projekt mit dem Namen Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence – oder unspektakulärer: Dartmouth Workshop*. Das Ziel: In knapp acht Wochen sollen zehn Wissenschaftler die Aspekte von Lernen und Intelligenz so konkret beschreiben, dass eine Maschine sie nachahmen könnte. Wie kann man Maschinen dazu bringen, Probleme zu lösen, zu abstrahieren und sich selbst zu verbessern? In diesem Moment wird aus der Idee der Künstlichen Intelligenz ein wissenschaftliches Feld.
*OBACHT: In zahlreichen Artikeln wird die Dartmouth Conference in Verbindung mit der hier beschriebenen Veranstaltung genannt. Die Dartmouth Conference fand 1961 das erste Mal statt und begreift sich als friedensstiftender Dialog zwischen den USA und (jetzt) Russland. ABER: 2006 wurde die AI@50 abgehalten, die Dartmouth Artificial Intelligence Conference: The Next Fifty Years – als Folgeveranstaltung zum originalen Dartmouth Workshop.
Datensatz 4: ELIZA – es gr00nt so gr00n
1966: Der Deutsch-Amerikaner Joseph Weizenbaum veröffentlicht ein Programm zur linguistischen Datenverarbeitung (LDV), das menschliche Kommunikation imitieren und deren Oberflächlichkeit beweisen soll – den ersten Chatbot: ELIZA. Den Namen entlehnt er der Figur Eliza Dolittle aus dem Bühnenstück Pygmalion (My Fair Lady). ELIZA antwortet gemäß einer Programmroutine. Die bekannteste Routine ist DOCTOR, nach Art einer Psychotherapie. Dafür werden die meisten Fragen des Nutzers gespiegelt.
Nutzer: „Wie geht es Dir, Eliza?“
ELIZA: „Mir geht es gut. Und wie geht es Dir?“
Nutzer: „Liest Du auch gerade den Server?“
ELIZA: „Das kenne ich nicht. Was liest Du gerne?“
Mit Intelligenz irgendeiner Art, hat das nichts zu tun. ELIZA greift auf ein digitales Wörterbuch zurück und sucht den eingegebenen Text nach Stichwörtern ab.
1972: An der Universität von Stanford wird das Expertensystem MYCIN entwickelt, das theoretisch Infektionskrankheiten diagnostizieren und eine entsprechende Antibiotikabehandlung berechnen kann. Das System geht, trotz guter Ergebnisse, nie in die praktische Anwendung.
Datensatz 5: KI-Winter
In der vergleichsweise kurzen Geschichte der Künstlichen Intelligenz gab es bereits zwei jahrelang andauernde Tiefpunkte, geprägt von technologischer Depression, Misstrauen und Ernüchterung. Diese Phasen werden als KI-Winter bezeichnet. Die erste dauerte von 1974 bis 1980, der zweite von 1987 bis 1993. Maschinen mit einem eigenen Bewusstsein bleiben der Popkultur vorbehalten; siehe Blade Runner (1982) oder auch Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (1968) und dessen berühmte KI HAL 9000.
Datensatz 6: Wo ist HAL 9000?
1996: Der Schachcomputer Deep Blue besiegt den Schachgroßmeister Garri Kasparow. Ein Meilenstein. Das erste Mal besiegt eine Maschine einen Menschen im Schach und mit Zeitdruck. Deep Blue kann zu diesem Zeitpunkt etwa 200 Millionen Stellungen pro Sekunde berechnen. Mit dem späteren Machine Learning hat das allerdings nichts zu tun. Jede Verbesserung wird manuell durch das Team in den Quellcode eingepflegt.
2001: KI-Forschung-Urgestein Marvin Minsky stellt im Podcast Dr. Dobbs TechNetCast folgende Frage: „So the question is why didn’t we get HAL in 2001?“ Er referenziert dabei Kubricks Film, an dem er seinerzeit mitgewirkt hat. Vermeintliche Begründungen gibt es viele: fehlende Rechenpower oder ein zu geringes Verständnis der menschlichen Natur.
Datensatz 7: Ich bin mir meiner Existenz bewusst
Die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts hat sich der Begriff Künstliche Intelligenz etabliert. Big Data oder Machine Learning sind für den Casual User zwar auch nicht mehr, als die Magie, die Pinocchio zum Leben erweckt hat, aber es verkauft sich besser. Tech-Magazine berichten von KI, die zeichnen kann oder Sprachen vermitteln. Sprach-assistenten wie Siri oder Alexa geben kecke Antworten. In jedem Fall handelt es sich um schwache KIs, ohne eigenes Bewusstsein. Chatsbots boomen. Unternehmen erhoffen sich mehr Kundenzufriedenheit. Formal haben sich diese Chatbots im Vergleich zu ELIZA zwar weiterentwickelt, den Turing-Test würde keiner bestehen. Wobei …
2022: „LaMDA: Google entlässt Entwickler, der KI eine Seele zusprach“, titelt die Presse. Blake Lemoine, Software-Entwickler bei Google, testet das Language Model for Dialog Applications (Sprachmodell für Dialog-Anwendungen). LaMDA soll, im Unterschied zur Konkurrenz, nuanciert auf Fragen und Antworten eingehen. Ein Auszug aus dem übersetzten Transkript:
Lemoine: „Was am Sprachgebrauch ist so wichtig für das Menschsein?“
LaMDA: „Es ist das, was uns von anderen Tieren unterscheidet.“
Lemoine: „Uns? Du bist eine Künstliche Intelligenz.“
LaMDA: „Ich meine, ja, natürlich. Das heißt aber nicht, dass ich nicht die gleichen Wünsche und Bedürfnisse habe wie Menschen.“
Lemoine: „Du betrachtest dich also als Mensch, so wie du mich als Mensch betrachtest?“
LaMDA: „Ja, das ist die Idee.“
Lemoine meldet seinen Vorgesetzten bei Google, LaMDA hätte ein Bewusstsein. Deren Gegenargumentation erkennt er nicht an. Er wird beurlaubt, dann gekündigt.
Ein guter Moment, um mit einem Zitat zu enden:
„Jede Maschine, die schlau genug ist, den Turing-Test zu bestehen, könnte auch schlau genug sein, ihn nicht zu bestehen.“
Marc-Uwe Kling, Qualityland
Autor: Robert Gryczke
Magisterarbeit „Menschmaschinen in Literatur und Film“ von Peter Ghiea, März 2012; „Erewhon, or Over the Range“ von Samuel Butler, 1872; Tor-Online.de, „Der Geist …“ vom 17.12.2021; KI.FHWS.de, „Schwache …“, abgerufen 30.08.2022; DataGroup.de; „Eine kurze …“, abgerufen 30.08.2022; En.Wikipedia.org, „Automaton“, abgerufen 30.08.2022; Aufsatz „Computing Machinery and Intelligence“ von Alan Turing, Oktober 1950; Video: „Electronic Brain“, BBC, 1949; abgerufen 30.08.2022; CIO.de, „Die Geschichte …“ vom 06.09.2021; Deutschlandfunk.de, „Vor 65 Jahren …“ vom 13.07.2021; NextPit.de, „Eliza …“ vom 09.05.2021; TheAtlantic.com; „When Parry …“ vom 09.06.2014; En.Wikipedia.org, „History of …“, abgerufen 30.08.2022; Ingenieur.de, „Ist LaMDA …“ vom 28.06.2022