
60. Ausgabe, I. Quartal 2016
Tot und unvergessen
Neulich bekam ich eine E-Mail aus dem Jenseits: „Mein verehrter Lieblingsnachbar. Bitte tue mir einen Gefallen und lösch‘ mich auf Facebook. Parole 1. Stock links.“ Als Adresse war ichhabwasvergessen@herrgottimhimmel.all vermerkt. Sie können sich vorstellen, wie schockiert ich war. Also doch: Es gibt ein Leben nach dem Tod. Aber das war nur der halbe Schock. Und, oh Gott, mein Nachbar, dieser elende Schurke, hatte wohl doch was mit Frl. Schneider. 1. Stock links, das ist das Reich unseres Hausschwarms, also der langbeinigsten Blondine, die dieser Eingang je gesehen hat. Alle Kerle wollten nur zwei Sachen von ihr: den Korb nach oben oder das Fahrrad nach unten tragen.

Und nun das. Der Kerl, Gott hab ihn selig, lässt bei Petrus alle Sieben gerade sein und will, dass ich sein Facebook-Account exe. Dabei hätt‘ ich doch lieber getauscht mit ihm; also wegen 1. Stock links. Aber okay, ich guck dann mal nach. Namen rein, Passwort dazu und schon öffnet sich mir seine Charmebook-Welt. Sieh einer an. Der Nachbar hat eine Menge Gründe, mich aus dem Jenseits anzubetteln. Hier ein extremer Post, da ein frivoler Kommentar. Und hui, was haben wir denn da: Auf seiner Freundesliste steht ja auch der 1. Stock. Na wenn das die Witwe wüsste ...
Ja gut, über Tote soll man nicht gehässig falsch Zeugnis reden. Also lösch ich seine Seite, und damit sein Leben auf Facebook. Es hat ihn nie gegeben. So schnell geht das. Falsch – es kommt noch ne Mail von Oben: „Mein verehrter Lieblingsnachbar. Bitte tue mir einen Gefallen und lösch mich auch auf amazon.de. Parole 1. Stock links.“ Mein Gott, denke ich, kann man aus dem Himmel sogar Wattebällchen bestellen? Ich geh also rein bei Amazon und hacke mich durch seine Bestelllisten. Was der aber in seinem Leben schon alles bestellt hat. Seine digitale Spur führt mich in die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz. Alleine in den letzten fünf Jahren vor seinem Ableben orderte das Ferkel fünf Stringtangas, elf Schlüpfer mit Kapuze, 20 Flaschen „Chanel No.5“, 70 Döschen „Prickelnder Badespaß“ und elf Kisten „Rotkäppchen“. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr raus. Den Nachbarn verstehe ich mit jeder Order besser: Sowas will „NieMann“, dass es zu Lebzeiten die Gattin liest. Erst recht nicht nach dem Abnippeln. Wer soll denn da um einen trauern? Mit zwei Klicks stirbt der Nachbar den Amazon-Tod.
Eine Woche später die dritte Mail von ichhabwasvergessen@herrgottimhimmel.all: „Mein verehrter Lieblingsnachbar. Bitte tue mir einen Gefallen und lösch mich mal auf Parship. Parole 1. Stock links.“ Jetzt bin ich aber doch ein bisschen sauer. Nicht nur, dass er mir die Tour im 1. Stock vermasselt hat, der hat auch mit der halben Welt rumgeflirtet. Hätte sich doch einen Nachlassdienst anheuern können, der nach dem Abnippeln seine digitalen Schweinereien schlachtet. Aber nee, der glaubte, dass er ewig lebt. Oder zumindest länger als seine Alte.
Ich geh’ für ihn seinen letzten Weg. Doch stopp: da ist ja ein Bild von 1. Stock links. Und die flirtet mit einem verdammt gut aussehenden Kerl. Das bin ja ich. Dieser Hurensohn von Nachbar – hat der doch mit meinem Traumkörper den Hausschwarm bezirzt. Diesen Account lösch‘ ich nicht – da gehe ich seinen Weg mal weiter ...
Autor: Jens-Uwe Jahns