
3. Ausgabe 2022 | Nr. 86
Homo Digitalis und die moderne Fortbewegung
Die Menschen lieben ihre Autos, Motorräder, Fahrräder, Flugzeuge und aus irgendeinem profanen Grund E-Scooter. Was ist das Transportmittel der Zukunft? Ein Blick durch die rotierenden Radkappen der Gesellschaft.
Sich in einen Metallkasten zu setzen, um dann mit 200 km/h über eine Strecke zu jaulen, sich darüber im Klaren, dass schon ein Schreckmoment – etwa durch einen insektoiden blinden Passagier – das krachende Verschmelzen der eigenen Organe, mit dem Metall, das einen transportiert, zur Folge haben kann – das scheint für viele Menschen das Schönste zu sein. Der folgende Text ist kein Mittel- oder Zeigefinger an den Individualverkehr, die gehören beim Fahren schließlich allesamt ans Steuer, sondern eine kleine Orakelei. Was ist in Zukunft wahrscheinlicher: 9-Euro-Ticket oder Flugtaxi? Durchdachter Individualverkehr oder doch endlich Teleporter? Uber, U-Bahn oder U-Boot?
„He had the same look in his eye that my brother always had. Probably the only thing my brother ever loved in his whole rotten life was that car.“
(„Er hatte denselben Blick in seinen Augen, den mein Bruder immer hatte. Wahrscheinlich war das einzige, was mein Bruder in seinem ganzen miesen Leben geliebt hat, dieses Auto.“)
George LeBay, „Christine“, Film, 1983
SRV Prototyp: Der Mensch und die Fortbewegung
Vielleicht hat sich Homo Sapiens schon vor 300.000 Jahren, in der Mitte seines Lebens (also mit 16 circa), ein abartig teures funkelnagelneues Steinzeitpferd in die Höhle gestellt. Vielleicht hat er sich dafür verschuldet, aus Frust sein Weibchen verlassen, den Job bei der Mammutjagd aufgegeben und ist mit einem jüngeren Weibchen in eine zu kleine Höhle gezogen. Vielleicht hat er danach beschlossen, sein Reitpferd jeden Sonntag von Hand zu reinigen und auf dem Feldweg A2 mit der ganzen Kraft seiner 1 PS in den Bereich des Kontinents zu brettern, an dem später Berlin entstehen würde. Wie sich die Faszination für Motorsport, Reisen & Co. nun entwickelt hat, sei mal dahingestellt. Feststeht, dass sich die Art zu Reisen im 19. Jahrhundert maßgeblich veränderte. Plötzlich tauschte Homo Sapiens seine Muskelkraft (und die der unglücklichen Tiere) gegen die Kraft von Dampfmaschinen und fossilen Brennstoffen ein. Eine (R)Evolution.
SRV Mark I: Hydro-Kultur
Beim Thema Verkehr unterhalten wir uns oft und reichlich über E-Autos und Dieselschleudern. Dabei ist das Reisen auf dem Wasser ein Grundstein unserer Gesellschaft, vor allem der Wirtschaft. Laut Schulbüchern lassen sich die ersten Boote auf ca. 6000 v. Chr. rückdatieren. Erst 5000 v. Chr. kamen Segel dazu. Um 700 n. Chr. bauten die Wikinger stabile Schiffe und machten damit den Atlantik unsicher. Ende des 15. Jahrhunderts waren Menschen mit Schiffen auf den Weltmeeren unterwegs und konnten im Prinzip überall hin – sofern sie es denn fanden: #Columbus #Amerika #DieHeißenNichtIndianer #WinnetouLäuftJetztImZDF
1801 präsentiert der Ingenieur William Symington das erste nutzbare Dampfboot. Sechs Jahre später nimmt die erste Dampfbootlinie den regelmäßigen Betrieb auf. Kaffeefahrten gibt es noch nicht. Dass bereits knapp hundert Jahre vorher Denys Papin mit einem teilweise durch Dampfkraft angetriebenen Schaufelradboot die Fulda durchquerte ist zumindest erwähnenswert.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts löst zunächst der Dieselmotor das Dampfschiff ab. Vereinzelt werden größere Schiffe (etwa U-Boote) mit Kernkraft angetrieben. In der Gegenwart werden über 90 Prozent aller Welthandelsgüter über das Wasser transportiert. Die Art und Weise scheint nicht so recht zukunftsfähig zu sein. Auf hoher See können Menschen verunglücken und ein Schaden genügt, um Milliarden Liter Meereswasser zu verunreinigen. Die Geschichten vom grimmigen Seebären, der mit Holzbein, Fernglas und Seemannsgarn seine Mannschaft führt, gehört (und gehörte vielleicht schon immer) in den Bereich der Fiktion. Mit moderner Fortbewegung hat das nur wenig zu tun. Glücklicherweise springt an dieser Stelle der Fortschritt ein.
Im April 2022 vermeldet die Presse: „Ohne Diesel und Kapitän an Bord“. Das klingt zwar wie eine sehr abenteuerliche Ausgabe des Traumschiffs, beschreibt aber den Start der zweijährigen Testphase des ersten vollelektrischen Containerschiffs. Die norwegische Yara Birkeland soll in absehbarer Zeit ohne menschliche Besatzung fahren.
Und das wäre ja auch für das Traumschiff eine echte Verbesserung!
SRV Mark II: Aero-Big
Der Mensch ist nicht zum Fliegen gemacht. Seit Anbeginn des Verstandes ist er aber auf alles neidisch, was fliegen kann. Die meisten Versuche, sich ebenfalls in die Lüfte zu erheben, gehen gehörig daneben und enden im Tod.
Am 17. Dezember 1903 verändern die Gebrüder Wright die Welt. Zwölf Sekunden kann sich ihr Doppeldecker in der Luft halten und fliegt 35 Meter weit. Bis in die Gegenwart wird dann der Ärmelkanal überflogen, ein Zeppelin stürzt ab und eine Passagiermaschine wird gekapert und als Waffe missbraucht (911). Zwischen 1945 und 2022 gab es allein in den USA 868 Flugzeugunglücke in der zivilen Luftfahrt. Fairerweise: Bei diesen Zahlen gibt es einen Abwärtstrend.
Trotzdem: Muss der Mensch fliegen – auch mit Blick aufs Klima? Knapp eine Milliarde Liter Kerosin sind schon eine Hausnummer. So viel fackelt die globale Luftfahrt mindestens ab – pro Tag. Kleinere Privatmaschinen und Helikopter noch ausgeklammert. Der Tagesspiegel titelt 2019: „Forscher entwickeln klimaschonendes Kerosin“. Der Haken: Auch Grundlagen wie Ölpalmen müssen erst einmal angebaut werden und erfahrungsgemäß sind Monokulturen nicht so richtig sinnvoll.
„Ich brauche kein schlechtes Gewissen“, runzelt der ein oder andere Leser gerade die Stirn. Keine Sorge. Rettung ist in (langer) Sicht. In Kanada schickte die Fluglinie Harbour Air ein elektrisches Flugzeug auf den ersten kommerziellen Passagierflug. 24 Minuten dauerte der Spaß. Das Problem ist wie üblich die Speichertechnik. Akkus sind unverschämt schwer. Aufwand und Nutzen beißen sich.
Und obwohl die Scham vor dem Fliegen vermeintlich zunimmt – mittlerweile erzählt man ja nur noch hinter vorgehaltener Hand von seinem Inlandsflug –, machen Start-ups wie Lilium Jet (München) den Weg frei für das Thema Lufttaxi. Und spätestens dann zahlt es sich aus, dass CSU-Politikerin Dorothee Bär anno 2018 geschickt um das Thema Breitbandausbau herumnavigierte und in einem ZDF-Interview avantgardistisch schmollschnüterte: „Habe ich die Möglichkeit, auch zum Beispiel mit einem Flugtaxi durch die Gegend fliegen zu können?“
Die Antwort: Ja. Vielleicht schon innerhalb der nächsten 15 Jahre. Aber zwischen Güsen und Genthin lädt das Youtube-Video trotzdem nicht.
SRV Mark III: Auto-Pilot
An diesem Punkt des Textes fiebert die motorenverliebte Leserschaft womöglich auf einen Abriss der Automobilgeschichte entgegen. Trotzdem nur das Wichtigste: 1894 geht das erste seriell gebaute Automobil an den Start, das Benz Velo. 1991 rollt in Zwickau der letzte Trabi vom Band; im Prinzip das Nokia 5110 unter den Kleinstfahrzeugen. 2015 startet der Abgasskandal bei VW.
Und nun, die Zukunft
BMW bewirbt sein „Auto der Zukunft“ schamlos, indem es den aktuellen Stand der Technik mit dem ikonischen Fantasie-Auto K.I.T.T. aus der Kultserie Knight Rider vergleicht. Der imaginäre BMW iNext fährt autonom, hat noch mehr Lichtsignale – etwa, um aufgeregtes Winken gegen aufgeregtes Blinken einzutauschen. Die Hupe funktioniert ausschließlich automatisiert (!) und generell soll das Innere etwa mehr Wohnzimmer, Kino, Kinderzimmer oder Office sein. Das heißt, Mama kann ihre Büroliebschaft jetzt noch flexibler einteilen.
Das Auto der Zukunft fährt natürlich nicht mit fossilen Kraftstoffen. Also zumindest im nächsten Jahrhundert nicht. Laut aktuellem Stand gehen die Erdölvorkommen noch im 21. Jahrhundert zuneige.
Elektroautos sind hübsch gedacht, können aber langfristig nur eine Übergangslösung sein, wegen der unausgereiften Batterietechnologie.
Brennstoffzellenautos (Wasserstoff) sind im Prinzip auch Elektroautos, deren Strom über eine Brennstoffzelle direkt im Auto gewonnen wird. Grundlage ist eine Reaktion mit Wasserstoff. Wird dieser mithilfe regenerativer Energien gewonnen, Daumen hoch, in jedem anderen Fall ein Satz mit X.
Bio- und künstlich hergestellte Kraftstoffe sind zwar nicht fossil, aber in vielen Fällen auch nicht klimaneutral. Knackpunkt ist oft (aber nicht immer) die Art der Herstellung, die häufig den potentiellen Nutzen negiert.
So weit, so ernüchternd.
SRV Ektypus: Die Fortbewegung und der Mensch
Schöner wäre ein „alles wird gut“ für das Fazit dieses kleinen Gewaltmarsches durch das Thema „Motorisierung“. Aber wieso lügen? All die guten Ideen, an denen die beliebten und unbeliebten Industriegiganten arbeiten, sind teure Trial-and-Error-Projekte zu Brückentechnologien. Das Auto, Motorrad, der Bus, der Jet der Zukunft wird zweifelsfrei hundertfach so viel Rechenleistung haben, wie ein heutiger PC. Womöglich wird der Begriff Wohnmobil ganz neu besetzt. Und vielleicht hat die Playstation 9 vier Räder und einen Leasingvertrag. Das alles nützt allerdings nur bedingt etwas, wenn uns auf halber Strecke der Strom ausgeht.
Und, Hand aufs Herz, so eine Fahrradtour hat doch auch ihren Reiz.
Autor: Robert Gryczke
Quellen: DLR.de, „Als der Mensch …“, abgerufen 31.08.2022; Planet-Schule.de, „Die ersten Boote“, abgerufen 31.08.2022; De.Statista.de, „Schifffahrt“, abgerufen 31.08.2022; Infinion.com, „Elektro-Schiffe“ vom 07.2022; ARD-alpha.de, „Flugpioniere …“; abgerufen 01.09.2022; De.Statista.de, „Länder …“ vom 25.08.2022; ARTS.eu, „Die Luftfahrt …“ vom 09.11.2021; FutureZone.at, „E-Flugzeug …“ vom 22.08.2022; WAZ.de, „Flugtaxi …“ vom 06.03.2018; Group.Mercedes-Benz.com, „Die Anfänge …“, abgerufen 01.09.2022; Home.Uni-Leipzig.de, „Potential …“ vom 20.12.2021; BMW.com, „Das Auto …“, abgerufen 01.09.2022; ADAC.de, „Wie …“ vom 04.08.2022