2. Ausgabe 2023 | Nr. 89

Homo Digitalis und sein digitales Erbe

Wie sieht unser digitaler Fußabdruck aus, wenn wir das Zeitliche gesegnet haben? Was passiert mit unseren Social-Media-Konten? Eine makabrer Pfad zum Reboot nach dem Systemabsturz.

„Um Gottes willen – schnell – schnell – bringen Sie mich wieder in Schlaf – oder, schnell – erwecken Sie mich – schnell –. Ich sage Ihnen, ich bin tot.“

Ernst Waldemar, „Die Tatsachen im Falle Waldemar“,
Kurzgeschichte, Edgar Allen Poe, 1845

Es gibt Themen, über die redet man nicht gerne. Etwa das Konzept Kichererbsen als Konfekt (Laddu), darüber, dass Otter-Männchen bei Hungersnot Otter-Weibchen mit deren eigenen Jungtieren erpressen, oder eben über das Thema Tod. Sollte Ihnen das Thema nicht behagen, werfen Sie doch stattdessen einen Blick in folgende weniger kontroverse Folgen dieser Artikelreihe:

•    Folge 08: Homo Digitalis und seine Welt.Religion
     (Ausgabe 80, 2021)
•    Folge 10: Homo Digitalis und seine Schlachtfelder
     (Ausgabe 82/83, 2021)
•    Folge 15: Homo Digitalis verbrennt (Ausgabe 88, 2023)

Wenn Sie kein Problem mit der menschlichen Vergänglichkeit haben: Herzlich Willkommen.

Exitus: Scheintod und Totenschein

Ab wann gilt ein Mensch eigentlich als tot? Schon früher waren sich die Menschen nicht so recht sicher, ob jemand schon von uns/ihnen gegangen ist oder einfach nur sehr tief schläft (jetzt nicht zu auffällig zum Kollegen gucken). Während Pestepidemien etwa mussten schnelle Entscheidungen getroffen werden. Da landeten auch mal Menschen unter der Erde, die dann aufwachten und buchstäblich die Radieschen von unten begutachteten. Die Angst, lebendig begraben zu werden, „Taphephobie“, war absolut rational und führte dazu, dass ab und an Glocken über dem Grab befestigt wurden. Ein dünnes Seil führte ins Innere des Sarges. Der Ex-Scheintote konnte dann bei Bedarf daran ziehen, wenn er genug vom Scheintod hatte.
War etwas mehr Zeit, wurde der vermeintliche Tote verschiedenen Reizen ausgesetzt. Man schob ihm spitze Nadeln unter die Fußnägel, überprüfte die Atmung oder trompetete ihm ins Ohr – vielleicht wäre das ja was für Stefan Mross. Mitte des 18. Jahrhunderts eröffnete in Weimar das erste Leichenhaus Deutschlands. Eine verrückte Idee: Man ließ die Toten solange in Ruhe, bis erste Verwesungsanzeichen einen Scheintod ausschlossen. In Österreich-Ungarn war man Anfang des 20. Jahrhunderts übrigens pfiffig. Man stieß den Toten ein Dolch ins Herz oder öffnete die Pulsadern, um einen Scheintod auszuschließen.

Die Gegenwart. Ein Patient gilt in Deutschland als tot:
•  wenn der Hirntod bestätigt wurde; der unumkehrbare Ausfall der gesamten Hirnfunktionen;
•  wenn der Tod (nach Unfall etc.) durch ärztliches Personal im Kontext einer gesetzlich festgeschriebenen Leichenschau festgestellt wurde;
•  wenn das zuständige Amtsgericht dem Antrag auf Todeserklärung nach dem Verschollenheitsgesetz stattgibt.

Der allerletzte Wille – Part I: Das Testament

Wir wollen an dieser Stelle gar nicht erst versuchen, die Leserschaft durch das Dickicht der deutschen Rechtslage zum Thema Erbrecht zu lotsen. Dafür gibt es zu Recht (unverschämt) hochbezahlte Fachkräfte, die einem erklären, warum es eine große Rolle spielt, ob man „vererben“ oder „vermachen“ schreibt; was der Unterschied zwischen „Erbbrief“ und Testament ist und ob die Begriffe „Erbrecht“ und „erbrecht“ nicht doch eine etymologische Wurzel haben.

Wir halten allerdings fest: Schon bevor der Mensch überhaupt sesshaft wurde, war sein Nachlass Diskussionsgegenstand. Mal entschied die Gemeinschaft, dann die Familie, die Kirche und schließlich der Erblasser selbst, was mit seinen vier Talern und der Ü-Ei-Sammlung passieren sollte. Im digitalen Zeitalter hingegen geht es oft um zunehmend mehr Immaterielles: das Instagram-Konto, die diversen Mail-Accounts, Online-Abos bei Spieledienstleistern usw. Mit dem Grundsatzurteil vom 12.07.2018 erklärte der Bundesgerichtshof: „Vertrag über ein Benutzerkonto bei einem sozialen Netzwerk ist vererbbar.“

Anlass war die Klage einer Mutter. Nach dem, zu diesem Zeitpunkt ungeklärten, Tod ihres Kindes, wollte sich die Mutter in den Account einloggen, unter anderem um die Korrespondenzen ihres verstorbenen Kindes auf Anzeichen nach Suizidabsichten zu untersuchen. Der Social-Media-Anbieter verwehrte ihr den Wunsch zunächst. Eine Klage führte zum Bundesgerichtshof und dem Erfolg.

Das Urteil erfuhr ein breites Echo in deutschen Medien. Zu Recht. Der Bundesgerichtshof inkorporierte mit seinem Urteil digitale Güter und die digitale Persona eines Menschen, die für viele Menschen untrennbar zum Alltag gehören, quasi das erste Mal in die deutsche Ablebenswirklichkeit der Justiz.

Der allerletzte Wille – Part II: Das neue Testament

Um zu unterstreichen, wie umfangreich dieses Urteil war, folgt eine serviceorientierte Auflistung aller Dinge, die zum digitalen Nachlass gezählt werden:

• Digitale Finanzdienste: etwa Online-Banking, Paypal & Co., digitale Geldanlageservices
• Digitale Güter: Filme, Musik, eBooks, Bilder, Abos für digitale Zeitschriften & Co., Softwarelizenzen – trotzdem abhängig von den AGBs der jeweiligen Unternehmen
• Elektronische Kommunikation: E-Mail, Social Media, Messaging-Dienste wie Whatsapp, Telegram, Zoom oder Skype
• Onlineverträge: Cloudspeicher (Google Drive & Co.), Streamingabos, Versicherungen, Internet & Telefon – Rechtsgeschäfte, die mit dem Tod sowieso enden (Arbeitsvertrag) sind ausgenommen
• Sonstiges: eigene Blogs & Co, Videocontent (Youtube & Co.), Websites & Domains, Webshops

Die Verbraucherzentrale bietet online diesbezüglich eine übersichtliche Checkliste zum Thema an.

Mind Upload: afterlife.exe

Science Fiction geht mit dem Thema Ableben natürlich anders um. In der Serie „Upload“ (2020) kann zahlungskräftiges Klientel das eigene Bewusstsein nach dem Tod digitalisieren und in eine Art Cyber-Paradies laden lassen. Ähnliche Ideen verhandelt auch „Transcendence“ (2014), „The 13th Floor“ (1999) oder natürlich die Kultserie „Max Headroom“ (1985). Alles Quatsch, oder ist die Wissenschaft dem Thema, dank dem Siegesmarsch von KI näher als jemals zuvor?

26. Mai 2023: Elon Musks Firma „Neuralink“ twittert über die Freigabe zu klinischen Studien am Menschen. Neuralink forscht an Chips, die im Gehirn implantiert werden und als Mensch-Maschine-Interface dienen sollen. Behinderte Menschen könnten dadurch etwa unkomplizierter mit ihrer Umwelt interagieren: Sprachausgabe, elektronische Hilfen anwählen etc. Aber auch eine Drahtloskommunikation von „Kopf zu Kopf“ wäre denkbar oder auf lange Sicht eine Integration ins Smart Home.

Und der Mind Upload? Lässt sich Ihr Bewusstsein in eine Maschine laden? Sie werden es sich denken können. Ein Gros der Wissenschaft sagt „nein“, u. a. weil ein Bewusstsein nach heutigem Stand nicht ohne einen Körper funktionieren kann. Ferner würde Mensch das Bewusstsein nicht „übertragen“, sondern wenn überhaupt eine Kopie erschaffen, die, gefangen in einem Supercomputer, körperlos in einem unsensorischen Limbo gefangen ist. Die Bestrebung hingegen, Algorithmen zu programmieren, die ähnlich komplex und individuell sind, wie das menschliche Gehirn, könnte die Gefahr einer unkontrollierbaren harten KI (siehe in diesem Heft) steigern.

Na dann, schönes Leben noch.

Autor: Robert Gryczke

Quellen: Welt.de, „Wie die Grenze zwischen …“ vom 29.03.2021; Spiegel.de, „Klingel im Sarg“ vom 19.11.1967; MDR.de, „Angst …“ vom 28.10.2020; Organspende-info.de, abgerufen am 28.05.2023; Bestatter.de, abgerufen am 28.05.2023; DS.mpg.de, abgerufen am 28.05.2023; Gesetze-im-Internet.de, abgerufen am 28.05.2023; Bestattungsplanung.de, abgerufen am 28.05.2023; Spiegel.de, „Ausgelöscht“ vom 26.07.2015; NDR.de, „Digitaler Nachlass“ vom 13.03.2023; Juris.Bundesgerichtshof.de, Pressemitteilung Nr. 115/2018; Verbraucherzentrale.de, abgerufen am 28.05.2023; NZZ.ch, „Die Firma …“ vom 26.05.2023