3. Ausgabe 2023 | Nr. 90

Homo Digitalis und seine Marktschreier

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„Alles, was du hier siehst, ist zu verkaufen, aber nicht alles, was zu verkaufen ist, siehst du hier!“

Lelant Gaunt, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“, Film, 1993

In der Gegenwart wollen wir keine Haustürgeschäfte mehr machen, öffnen aber bereitwillig allen anderen Verkaufs- und Werbeformen Tür und Tor. Warum verfolgt uns Werbung buchstäblich auf Schritt und Tritt? Gibt es eigentlich noch „gute“ Werbung? Stimmt es eigentlich, dass Hummeln theoretisch gar nicht fliegen können? Wir werden es nie erfahren. Oder vielleicht doch. Geben Sie es zu: Jetzt sind Sie neugierig! Willkommen in der wunderbaren Welt der Aufmerksamkeitsökonomie.

(Und bevor wir Sie verlieren: Hummeln können fliegen, weil sie mit ca. 200 Flügelschlägen pro Sekunde kleine Luftwirbel erzeugen, deren Auftrieb sie nutzen.)

DIESE VERÄNDERUNG IST KRASS: Kleine Geschichte der Werbung

4000 v. Chr., irgendwo auf einem Marktplatz in Kairo: Die junge Nefertari hat gerade Fladenbrote besorgt, um ein paar Snacks für die abendliche Grabräuber-Verbrennung vorzubereiten. Plötzlich rennt ihr jemand vom Fladenbrotstand nach: „Hey, danke für das Tauschgeschäft. Wir wollten nur wissen, ob du zufrieden warst. Wenn du dieses kleine Umfragepapyrus ausfüllst, bekommst du bei deinem nächsten Besuch einen Gratis-Griffel. Außerdem haben wir bemerkt, dass du dich seit geraumer Zeit vor dem Ankh fürchtest und vor der Rache des Anubis zitterst. Ägypter mit den gleichen Ängsten interessieren sich für Früchtebrot. Magst du direkt noch ein paar getrocknete Datteln und Feigen mitnehmen?“ Hätte sich damals niemand vorstellen können. 6000 Jahre später gehört das zum Alltag. Werbung als Phänomen gibt es, seit Menschen Waren anbieten. Schon auf dem eben erdachten Marktplatz stehen Händler und machen für Lebensmittel den Mund weit auf. Das Konzept „Marktschreier“ hält sich bis in die Gegenwart, wenngleich mittlerweile eher als nostalgischer Showact.

Als 1650 in Leipzig die erste Tageszeitung erscheint, gibt es plötzlich ein Medium, in dem Händler reichweitenstark über ihre Produktneuheiten informieren können. Die Industrielle Revolution bringt den Innenstädten als Begleiterscheinung 1853 die erste Litfaßsäule. Um 1870 findet der Begriff „Reklame“ Anwendung für alles, was die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Ware richtet. Der Begriff wurzelt im französischen „réclamer“ („etwas ins Gedächtnis rufen“) und dem lateinischen „reclamare“ („dagegenrufen“). Mit dem Vormarsch der Elektrizität werden auch Leuchtreklamen ein Thema.

1924 hört Deutschland seine erste Radiowerbung. Zum Glück nicht die von Seitenbacher. 1956 strahlt der BR die erste deutsche TV-Werbung aus: „Persil. Persil und nichts anderes.“ Passend. Nach ‘45 wollen schließlich einige Unternehmen Schmutzwäsche weißwaschen.

Im 20. Jahrhundert geht es nicht mehr darum, dass Menschen Dinge kaufen, die sie brauchen. Ab jetzt werden Menschen zu Zielgruppen, Altersklassen und Einkommensklassen, die mit einem USP (Unique Selling Point) für eine Marke begeistert werden, die ideal auf die eigene Gefühlswelt abgestimmt ist.

In der Gegenwart sind Konsumenten die Litfaßsäule und Cookies gar nicht mehr so lecker.

WIR WAREN SCHOCKIERT: Targeted Advertising

Kennen Sie personalisierte Werbung? Sie kennen personalisierte Werbung! Vielleicht sind Sie ein weißer Mann zwischen 24 und 48, mit Wohnsitz in Deutschland, der sich für Fischzucht und politische Themen interessiert. Und vielleicht gibt es ein Unternehmen, das seine Werbung an weiße Männer zwischen 24 und 48, mit Wohnsitz in Deutschland, die sich für Fischzucht und politische Themen interessieren, richten will. Gut, dann passts ja. Haben Sie in Social-Media-Profilen Ihre Interessen angegeben? Suchen Sie vielleicht zweimal pro Tag nach Zubehör für Fischzucht? Surfen Sie regelmäßig auf den Portalen einschlägiger Politmagazine? Kann es womöglich sein, dass Sie aus Bequemlichkeit bei der Cookie-Abfrage ständig auf „Alles unhinterfragt hinnehmen – gerne verkaufe ich mein Erstgeborenes – als Zeitschrift nehme ich dann die Wild & Hund“ klicken?

Immer interessanter wird „Geo-Targeting“. Wer etwa bereitwillig seine Standortübermittlung aktiviert, kann davon ausgehen, dass dieser Verlauf unmittelbar Teil des Nutzerprofils wird. Beispiel gefällig? Google registriert, dass Sie häufig an einem bestimmten Ort sind: Bücherei, Zoo, Erotikfachgeschäft. Gut möglich, dass Ihnen in absehbarer Zeit Werbung für Geschäfte in der Umgebung angezeigt werden.

Ein heiteres Bild: Man begutachtet im Erotic Store gerade die Spitzenpreise und wird per Pop-up plötzlich auf die charmante Privatmetzgerei um die Ecke hingewiesen. Support your local business.

DAS WIRST DU NICHT GLAUBEN: Influencer – moderne Litfaßsäulen

Das Gabler Wirtschaftslexikon schreibt: „Influencer-Marketing ist die Planung, Steuerung und Kontrolle des gezielten Einsatzes von Social-Media-Meinungsführern und Multiplikatoren, um durch deren Empfehlungen die Wertigkeit von Markenbotschaften zu steigern und das Kaufverhalten der Zielgruppe positiv zu beeinflussen.“ Ist auch nicht immer alles schlecht. Es gibt etwa Influencer, die regelmäßig in Kurzvideos über den Job im Rettungsdienst berichten und im Zuge dessen auch für Zubehör wie digitale Notfallarmbänder werben. Rettet im Zweifelsfall Leben. Doch für jeden dieser Accounts lassen sich eben auch hunderte Lifestyle-, Meinungs-, Gaming- etc.-Influencer im Netz finden, die teils völlig unreflektiert vorgefertigte Werbetexte in die Kamera blöken und ihren oft jugendlichen Followern erzählen, warum Dubai richtig dufte ist und wie man „passives Einkommen“ generiert. Natürlich gibt es auch die hochwertigen Kanäle, die bei Placements umsichtig sind und Werbung klar vom restlichen Inhalt trennen – aber es gibt halt auch die Instastorys für esoterische Heilsteine mit versteckten Krebsheilversprechen.

ENDING EXPLAINED: Werbung ist doch dieses Markeding

Wir wollen uns an dieser Stelle nicht im Kleinklein der Kapitalismuskritik verlieren. Feststeht: Der Markt hat Produkte und Dienstleistungen. Und über diese soll der Verbraucher, der Nutzer, der Kunde informiert werden. Daran hat sich nichts geändert.

Vielleicht denken wir einfach alle mal gemeinsam darüber nach, was mit unseren Daten passieren soll, ob wir jede Cookie-Abfrage einfach abnicken und wie fantastisch es ist, dass Hummeln fliegen können.      

Autor: Robert Gryczke

Quellen: AvidlyAgency.com, „Was ist digitales Marketing“, abgerufen am 16.09.2023; RND.de, „Zu dick …“ vom 12.05.2022; Zukunftsinstitut.de, „Von der Reklame …“ aus 08.2015; Oesterreich-isst-informiert.at, „Lebensmittelwerbung …“ vom 12.02.2020; HurghadaLovers.com, „Die Währung …“ vom 21.11.2021; Sempria-Search.de, „Reklame …“ vom 09.11.2011; MainPost.de, „Seit 85 Jahren …“ vom 25.06.2009; Stern.de, „Am Anfang …“ vom 03.11.2021; Wirtschaftslexikon.Gabler.de, „Influencer-Marketing“, abgerufen am 16.09.2023; Markenartikel-Magazin.de, „Mehrheit …“ vom 26.06.2023.