79. Ausgabe, 4. Quartal 2020

Chatten bis der Arzt kommt

Arztpraxen stellen sich auf Telemedizin ein.
Doch viele Patienten misstrauen der virtuellen Sprechstunde. 

Das E-Health-Gesetz von 2016 und die Lockerung des Fernbehandlungsverbotes hat den Weg freigemacht. Ärzte können ihre Patienten per Online-Sprechstunde untersuchen und behandeln – ohne, dass sie die Patienten zuvor persönlich gesehen haben müssen. Was eigentlich den Menschen im ländlichen Raum helfen sollte, hilft zunächst den Städtern. Dort, wo die Pandemie am ärgsten zuschlägt und das Breitband am stärksten ist, befindet sich die Telemedizin auf dem Vormarsch. Auf dem flachen Land sieht das ganz anders aus, wie unser Report aus einer altmärkischen Praxis zeigt.

Die Praxis des Allgemeinmediziners ist so voll, wie sie voll sein darf. Jeder zweite Stuhl im Wartezimmer ist so gestellt, dass man sich nicht darauf setzen kann. Die andere Hälfte ist besetzt. Dauerhaft. Zwei Fenster auf Kipp. Wird’s kühl, sitzt man mit Schal und Mantel hier. Geht die Tür auf, gibt’s Frischluft. Niemand schreckt davon auf. Etwa, um umherfliegende bunte Zeitschriften einzusammeln. Sowas liegt schon lange nicht mehr aus. Angegrabbelte Magazine sind in Pandemiezeiten Teufelszeug. Gedrucktes Lesen ist eh oldschool. Guckt sowieso jeder in sein Handy.

Der Deutsche verbringt durchschnittlich 7,5 Stunden im Wartezimmer, was im Vergleich zum Stau wenig ist (120 Stunden pro Jahr). Auch hier in der altmärkischen Kleinstadt ist Geduld gefragt. Der Arzt nimmt sich Zeit für seine Patienten. Er weiß, dass gesund werden mit Psychologie zu tun hat. Empathie lindert Schmerz. Das ist hier in der altmärkischen Kleinstadt nicht anders als anderswo. Was hier vielleicht etwas anders ist – die Patienten kommen nicht nur aus der Großwohnsiedlung gleich vis-a-vis, sondern auch aus den Dörfern ringsherum. Manche nehmen eine Stunde Fahrt in Kauf. Der Doktor ist ein Experte, beliebt, sein medizinischer Rat gefragt.

„Der Nächste bitte.“ Eine Dame, hochbetagt, schlurft herbei. Die Knie, der Rücken, das Kreuz. Zu dem, was schon immer schmerzte, kommt nun die Angst. Wer dreimal hustet, hat der etwa schon ...? Und was ist mit dem Schnupfen, der sich seit zwei Wochen hartnäckig hält?

Angst ist groß, Technik zu kompliziert

Die Angst, sich mit Corona anzustecken, ist riesig. Je oller, desto doller. Der Arzt macht seinen Job – als Mediziner und als Psychologe. Und am Ende als Technikberater: „Haben Sie ein Handy?“ Natürlich, sagt die Dame, sie sei ja nicht von gestern. Letztes Jahr Weihnachten, da habe ihr der Enkel sogar gezeigt, wie man Bilder per WhatsApp verschickt: „Das kann ich gut.“ Doch das Angebot des Mediziners, beim nächsten Mal per App und Handy reinzuschauen, lehnt die Dame ab: „Zu kompliziert.“

Der Arzt kennt das schon:

„Jedem Patienten, der ein Handy hat, biete ich meine Onlinesprechstunde an. Nur wenige nutzen sie.“

Nicht einmal die technikaffinen Jungen setzen sich vor den Laptop, um mit dem Arzt zu reden: „Es ist ein Angebot, aber es geht nicht wie warme Semmeln.“

Die virtuellen Wartezimmer füllen sich andernorts. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt gab es im 1. Quartal 2020 zunächst 2.424 Tele-Sprechstunden. Dann kam Corona und die Angst vor der Infektion im Wartezimmer. Im 2. Quartal ließen sich schon 12.111 Patienten virtuell behandeln.  Ein Durchbruch?

Unser altmärkischer Mediziner hat den Boom nicht vor Augen: „Bei mir haben die Patienten zwar weite Wege, aber jede Menge Funklöcher. Viele kommen mit der Technik nicht klar.“ Vor allem aber ist ihre Lebenserfahrung eine andere und in der sitzt ihnen der Doktor gegenüber und nicht im Netz-Nirvana: „Zum Arzt geht man hier persönlich. Dafür nimmt man auch Wartezeiten in Kauf.“ Mit seiner ganz persönlichen Erfahrung hat indes zu tun, dass wir seinen Namen nicht nennen dürfen: „Ich möchte nicht, dass die Leute denken, ich forciere die Telemedizin, weil ich ein leeres Wartezimmer haben möchte.“ Dennoch will er virtuelle Sprechstunden weiter jedem Patienten anbieten: „Der Telemedizin gehört die Zukunft, die Frage ist nur, wann.“

Studien sind das eine, die Realität etwas anderes

In der Theorie ist das unbestritten: Nach einer Bitkom-Studie von 2019 ist jeder zweite Deutsche überzeugt, dass es eine Zukunft ohne E-Health-Angebote nicht mehr geben wird. Nach einer anderen Studie des deutschen Digitalverbands im Rahmen von telemedizinischen Angeboten ist jeder dritte Deutsche bereit, die Online-Sprechstunde zu nutzen. Doch (noch) ist ein großer Boom nicht auszumachen. Trotz Corona.

Irgendwann wird Telemedizin eine nachgefragte Alternative sein. Spätestens, wenn auch die letzten Fragen zum Datenschutz gelöst sind,  auch kleine Arztpraxen in die notwendige technische Infrastruktur investiert haben und Breitband flächendeckend anliegt. Oder wenn sich etwas wie „Amazon.med“ durchsetzt oder ein anderer überregionale Anbieter mit ganzer Power tatsächlich in die ambulante Versorgung eingreift. Darauf will unser Allgemeinmediziner aus der Altmark nicht warten. Er will ausprobieren, sich einbringen, mit dabei und vorbereitet sein.

Allmählich steigt schon jetzt die Zahl der Praxen, die eine medizinische Beratung aus der Ferne anbieten. In Sachsen-Anhalt waren es Ende 2019 erst 13 Ärzte, 1 Psychologischer Psychotherapeut und 2 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Ende Juli 2020 boten bereits 236 Ärzte, 137 Psychologische Psychotherapeuten und 58 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Onlinesprechstunden an (Quelle KV Sachsen-Anhalt). Sie wollen die Zukunft nicht verpassen, wenn der Patient soweit ist.

Ohne E-Health wird es vielleicht auch bald nicht mehr gehen. Zwar hat sich die Arztdichte in Deutschland seit den 1980er Jahren bis 2019 durchschnittlich auf 207 Einwohner pro Arzt verdoppelt (Quelle Statista), doch  der Behandlungsbedarf steigt. Vor allem wegen immer mehr älteren Menschen. Rund eine Milliarde Mal pro Jahr kommt es in Deutschland zu einem Arzt-Patienten-Kontakt. Das Problem: Immer weniger der rund 402.000 berufstätigen Ärzten (Quelle: Bundesärztekammer) sind bereit, sich als Vertragsarzt mit einer eigenen Praxis niederzulassen. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung  bieten rund 172.000 Ärzte und Psychotherapeuten vertragsärztliche Dienstleistungen in über 102.000 Praxen an.  In ländlichen Regionen mit vielen älteren Menschen wächst die Unterversorgung. Ausgerechnet dort, wo die überwiegend ältere Bevölkerung Probleme mit der Technik hat. Statt, wie erhofft auf dem flachen Land, boomt die Telemedizin also in den Städten. Junge Leute scheuen langes Rumhocken in Wartezimmern. Hier gilt chatten mit dem Tele-Doc als hip.

Autor: juj