
73. Ausgabe, 2. Quartal 2019
Homo Digitalis schließt einen DigitalPakt
Was bedeutet der „DigitalPakt Schule“? Und bringt er mehr als eine schöne neue Technik? Im zweiten Teil unserer Themenreihe betrachten wir ein Bildungswesen im Umbruch und fragen uns, ob das analoge Schulbuch ausgedient hat.
1657 erschien das erste Standardwerk zur Pädagogik: Opera Didactica Omnia, die großen Werke der Lehre. In diesem spricht sich Johann Amos Comenius unter anderem für ein Bildungssystem der Gleichberechtigung aus. Unabhängig von sozialem Stand und Geschlecht. Er betrachtete Kinder in verschiedenen Phasen des Heranwachsens.
Über 350 Jahre später: Wir brauchen neue Computer.
Präludium: Politik vs. Jugendkultur
Da Jugendkultur auch und zu großen Teilen in Schulen stattfindet, lohnt sich an dieser Stelle ein kurzer Blick, auf die aktuelle Causa Rezo.
Jugendkultur, digitale Neuzeit und Politik kollidieren dieser Tage. Mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“, hielt der Youtuber Rezo den PR-Apparat der Christdemokraten auf Trab. 14 Millionen Videoabrufe. Ein viraler Hit. Das geplante Antwortvideo von CDU-Innenpolitiker Philipp Amthor wird zwar produziert, bleibt aber unveröffentlicht (Stand 02.06.). Amthor im Interview dazu: „Eine Partei ist keine YouTube-Unterhaltungssendung.“
Eine Kartoffel ist auch kein Steak. Kein Grund, sich beim Grillen nicht trotzdem damit zu beschäftigen. Insbesondere, wenn die Kartoffel vielleicht besser ankommt.
Vielleicht zeugt so ein Statement auch von einer grundsätzlichen Entfremdung zwischen Politik und Jugendkultur. Zahlreiche Medienformate, mit ganz unterschiedlichem Klientel, schaffen es, sich kritisch-sachlich, mit dem knapp 55-minütigen Anschuldigungskatalog auseinanderzusetzen. Die Edutainment*-Youtuberin Mai Thi Nguyen-Kim betrachtet beispielsweise ausschließlich die im Video angesprochenen Behauptungen zum Thema Klimawandel, bestätigt oder widerlegt diese. 1,5 Millionen ZuschauerInnen. Ein Erfolg.
Auch andere Leitmedien haben das Video nüchterner Faktenchecks unterzogen. Der Konsens: Ja, Rezo serviert viele Fakten, setzt diese aber mitunter in falschen Kontext zueinander und interpretiert auch schon mal am Kern vorbei. Auch für die CDU wäre es kein Problem gewesen, das Video unaufgeregt zu beantworten. Weniger defensiv und, nun ja, beinahe schon zickig. Am Ende ist es den ABC-Schützen ja vielleicht sogar lieber, wenn der digitale Wandel von Leuten gehandhabt wird, die soziale Medien als Teil einer modernen Kommunikationskultur begreifen und nicht nur als Konkurrenz zur eigenen Pressearbeit. *2
DigitalPakt Schule:
Was soll aus den Kindern nur werden? Fachkräfte!
Der Anfang 2019 beschlossene DigitalPakt Schule soll mithilfe einer Finanzspritze, knapp fünf Milliarden Euro in die digitale Infrastruktur von knapp 40.000 deutschen Schulen injizieren. Mit dem Geld soll die lange verpasste Modernisierung nachgeholt werden. Digitale Lernsysteme sollen angeschafft werden, interaktive Tafeln, Laptops, Tablets, WiFi.
Dieser Aktionismus ist erfreulich, denn im globalen Vergleich hinkt Industrienation Deutschland diesbezüglich hinterher. Mit knapp elf Schülern pro Schul-PC liegt Deutschland unbedeutend über dem EU-Schnitt, aber beachtlich hinter Polen und Norwegen. Aber klar: die fehlende Hardware ist Symptom, nicht Ursache. Wenn aus Angst vor Datenschutzchaos einigerorts Zeugnisse wieder per Hand beschriftet werden, liegt das ja nicht daran, dass Frau Lehrerin keinen PC hat.
Es geht auch um ein ganzheitliches Begreifen, von Digitalisierung als Chance und Herausforderung. So informiert Sachsens Staatsministerium für Kultus in einem Informationspapier über „die Wechselwirkung zwischen der Digitalisierung, den gesellschaftlichen Entwicklungen und der Medienbildung, um Chancen und Herausforderungen deutlich herauszustellen“. In diesem Papier wird auch der pragmatische wirtschaftliche Ansatz eines digitalisierten
Bildungswesens deutlich. SchülerInnen dürfen in Zukunft nicht nur passive Rezipienten sein. Sie müssen verstehen, was mit Daten passiert, wie Technik funktioniert. Auch um einen Arbeitsmarkt, der sich zweifelsfrei im gleichen Tempo digitalisiert, bedienen zu können. Oder anders: „Derart trifft die Notwendigkeit einer umfassenden Medienbildung mit ihren Überschneidungen zur informatischen Bildung synergetisch auf die Anstrengungen, den wachsenden Bedarf an IT- und Softwarefachkräften [...] abzusichern.“ *3
Next Level Education: mit der VR-Brille auf dem kaputten Klo
Um den DigitalPakt Schule zu realisieren, dreht Deutschlands Politik an vielen Schrauben. Nicht zuletzt fasst man auch das deutsche Grundgesetz an. Laut diesem galt bisher eine eindeutige Kulturhoheit der Länder. Kurz: Deutsche Bundesländer kümmern sich selbst um Angelegenheiten wie Bildung, Rundfunk & Co.
Nach viel hin und her gilt seit dem 04. April 2019 der Artikel 104c GG in folgender Fassung:
„Der Bund kann den Ländern Finanzhilfen für gesamtstaatlich bedeutsame Investitionen sowie besondere, mit diesen unmittelbar verbundene, befristete Ausgaben der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände) zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der kommunalen Bildungsinfrastruktur gewähren. Artikel 104b Absatz 2 Satz 1 bis 3, 5, 6 und Absatz 3 gilt entsprechend. Zur Gewährleistung der zweckentsprechenden Mittelverwendung kann die Bundesregierung Berichte und anlassbezogen die Vorlage von Akten verlangen.“
Kurz: Das Land darf jetzt ordentlich Geld für Bildung in die Bundesländer pumpen, nimmt sich im Umkehrschluss aber auch besondere Kontrollmaßnahmen heraus. Apropos „Geld“ und „herausnehmen“: Woher kommen eigentlich die fünf Milliarden Euro?
Ende 2018 hat die Bundesregierung das Gesetz zur Errichtung des Sondervermögens „Digitale Infrastruktur“ verabschiedet, kurz DIFG. Aus diesem geht hervor, dass die Regierung zunächst 2,4 Milliarden Euro ‚vorstreckt‘, um Projektfinanzierungen anzuschieben. Die eigentliche Finanzierung allerdings, „erfolgt aus den Einnahmen aus der anstehenden Bereitstellung von Frequenzen für den Mobilfunk durch die Bundesnetzagentur“. Übrigens: Auf der Website der Bundesnetzagentur, kann man die Auktion für die aktuellen 5G-Frequenzen verfolgen. Stand bei Redaktionsschluss: Über sechs Milliarden Euro.
Unter anderem soll ausbildungsbezogene Hardware angeschafft werden, z.B. VR-Brillen. Super, aber auch etwas befremdlich, wenn zeitgleich im Süden und Südwesten der Republik die Schulen abrissreif sind. Laut einer Studie der Förderbank KfW sind rund 42 Milliarden Euro nötig, um alle betroffenen Schulen wieder in Schuss zu bringen. Aber vielleicht kann sich der Nachwuchs auch schützend das neue iPad über den Kopf halten, wenn der Putz von der Decke rieselt.*4
Der DigitalPakt: ordentliches Flickzeug, für große Löcher
Nein, natürlich ist der DigitalPakt Schule keine sinnlose Geldverbrennungsmaschine. Junge Menschen in der Schule, in der Aus- und Weiterbildung müssen das Rüstzeug mit auf den Weg zubekommen, um die Hard- und Software der Datenautobahn zu verstehen und selbstbestimmt mitzuformen. Am Ende hängt die Qualität des Bildungswesens aber mitnichten vom Gratis-Tablet ab. Lehrpersonal, Eltern, Entscheider müssen vor allem selbst qualifiziert werden. Und am Ende dürfen sie mit den neuen Herausforderungen nicht alleingelassen werden. Wenn das allerdings klappt, liegt vielleicht ein Modellversuch wie in Japan nicht mehr in allzu weiter Ferne. Dort hat aktuell das erste vollständig digitale Klassenzimmer seinen Testlauf.
Aber, wollen wir das überhaupt?
(https://www.dw.com/de/japan-das-digitalisierte-klassen zimmer/av-42966891)
Robert Gryczke
*1 (Forum Classicum 04/2006, „350 Jahre Didactica Magna“, abgerufen am 02.06.2019); *2(Deutschlandfunk, „Eine Partei ist keine [...]“, vom 31.05.2019, abgerufen am 02.06.2019), (Video: YouTube/Rezo, „Die Zerstörung der CDU.“, vom 18.05.2019), (Video: YouTube/maiLab, „Rezo wissenschaftlich geprüft“, vom 23.05.19), (Stern, „Faktencheck zum Anti-CDU-Video: […], vom 24.05.2019) *Edutainment: Kofferwort aus „Education“ (Lernen) und „Entertainment“ (Unterhaltung); *3 (Tagesschau, „Bundestag stimmt für Digitalpakt“, vom 21.02.2019), (Spiegel Online, „Elf Schüler müssen sich einen PC teilen“, vom 11.08.2018), (Spiegel Online, „Grundschullehrer schreiben Zeugnisse [...]“, vom 27.06.2018), (Freistaat Sachsen, Informationspapier „Medienbildung [...]“, abgerufen am 02.06.2019); *4 (Buzer, „Artikel 104c“, abgerufen am 02.06.2019), (Website des Bundestags, Grundgesetz, abgerufen am 02.06.2019), (Website des Bundesrats, „Vorerst gestoppt: [...]“, vom 14.12.2018), (Tagesschau, „Digitalpakt Schule kann kommen“, vom 15.03.2019), (Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, abgerufen am 02.06.2019), (Website des BMBF, Pressemitteilung 069/2018, abgerufen am 02.06.19), (Bundesfinanzministerium, „[...] DIFG“, abgerufen am 02.06.2019), (Website der Bundesnetzagentur, „Frequenzen für 5G“, abgerufen am 02.06.19), (Hamburger Abendblatt, „Investitionsstau an Schulen“, vom 15.08.2018)