81. Ausgabe, 2. Quartal 2021

Homo Digitalis und seine Silizium-Kälber

Wie entwickeln sich okkulte Gemeinschaften im Kontext des digitalen Wandels? Ein irrlichternder Streifzug durch soziale Medien, vorbei an Hexenzirkeln und Lichtgestalten mit einem gewaltigen Schatten.

Religion und Spiritualität sind komplexe und dicht verwobene Themen. Das vorliegende Essay versteht sich in diesem Kontext als Blick durchs Schlüsselloch, nicht als Türöffner.

„Daylight. When was the last time you remember seeing it? And I‘m not talking about some distant, half-forgotten childhood memory, I mean like yesterday. Last week. Can you come up with a single memory? You can‘t, can you? You know something, I don‘t think the sun even ... exists ... in this place. ‚Cause I‘ve been up for hours, and hours, and hours, and the night never ends here.“

(John Murdoch, „Dark City“, Film, 1998)

Prolog: Das Ende

Für Fans von abgefahrener Science Fiction ist das Thema Sekten ein unendlicher Quell der Inspiration. Von simplen Weltuntergangsszenarien über Verschwörungsängsten bis hin zu absurden Auslegungen der großen Religionen ist alles dabei. Alle erdenklichen akademischen Disziplinen beschäftigen sich mit Ursachenforschung. Sekten und deren Leitfiguren sind außerdem beliebte Themen in der Popkultur; beispielsweise als Gegenstand einer Mediensatire wie in der Erfolgsserie American Horror Story, als gruppendynamisches Element in The Endless oder als Dekonstruktion der zahlreichen Spiritual-Leader-Figuren in Filmen wie The Master.

Die Recherche zu dem Thema beginnt zumeist bei Berichten über Massenselbstmorde, religiöse Gewalt und Manipulation. Bedrückend.

Die in Japan gegründete Sekte Aum zeichnete für den infamen Giftgasanschlag im Tokioter U-Bahn-System anno 1995 verantwortlich. Dreizehn Menschen starben, über sechstausend wurden als schwerverletzt aufgeführt. Welche Ideologie, welches Narrativ treibt Menschen zu so einer Tat? Pragmatisch betrachtet billiger Mumpitz: Ein Mischmasch aus Yoga-Übungen und buddhistischen sowie hinduistischen Weisheiten, der vom spirituellen Führer Chizuo Matsumoto – genannt Shōkō Asahara – mit Gewalt durchgesetzt wurde. So skizzierte es unter anderem der Spiegel im Jahr 1996, in einer Nachbetrachtung des Giftgasanschlags. Das Ende der Aum-Sekte kam 2000 – als diese sich in Aleph umbenannte. Seitdem verzichten die Mitglieder auf Terror-Attentate und laden stattdessen zu Dinner- und Yoga-Events ein. Naja, jeder geht anders mit seiner Spiritualität um.

Phänomen 1: Cybersectarianism – der Cyberspace als Zufluchtsort

Das Kofferwort „Cybersectarianism“ wirkt auf den ersten Blick unkompliziert. Da versteckt sich doch irgendwie „Cyberspace“ und „Sekten“ drin – womöglich Sekten, die nur im digitalen Raum stattfinden? Fast. Die Definition ist noch nicht betoniert, hat aber bis jetzt noch nichts mit technoidreligiösen Cyberpunk- Fantasien zu tun, denen die Leserschaft womöglich gerade erliegt. Ins Spiel gebracht hat den Begriff die Politikwissenschaftlerin Patricia Thornton im Jahr 2000, ihrem wissenschaftlichen Beitrag in der Publikation „Chinese Society: Change, Conflict and Resistance“. Darin beschreibt sie „eine einzigartige Hybridform polito-religiöser Mobilisierung“ und adressiert konkret Mitglieder traditioneller Qigong-Bewegungen, die im Zuge der extremen staatlichen Einschränkung der Religionsfreiheit in China auf eine anonyme, digitale Kommunikationsstrategie zurückgreifen. Mit ‚Sekten‘ im umgangssprachlichen Sinne, also religiöse Gruppierungen mit gefährlichen Tendenzen, haben Qigong-Bewegungen übrigens nur wenig zu tun.

Kurz: Nach aktuellem Stand beschreibt der Begriff „Cybersectarianism“ in wissenschaftlichem Kontext eine Organisationsform religiöser Gruppen, die vornehmlich auf digitaler Kommunikation basiert.

Phänomen 2: #Worshipping – Okkultismus in den sozialen Medien

Für einige Best Ager ist das Internet noch immer Hexenwerk – so weit, so bekannt. Tatsächlich aber findet ein großer Teil des okkultistischen Tagewerks mittlerweile online statt. Spiritismus, Okkultismus, Hexerei und pagane Lebenswelten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und werden dank Internet und Social Media ganz offen zelebriert. Unter #WitchTok trendet auf der Video- Plattform TikTok regelmäßig Hexen-Content. In feschen Outfits zeigen moderne Hexen, wie Zaubersprüche wirken, auf was man als Anfängerin achten muss – Kreise zeichnen, so wichtig! – und warum Steine der heiße Scheiß sind; natürlich immer unterlegt mit cooler Musik aus der Spotify-Top- 100-Playlist. Es ist zweifelsfrei nur noch eine Frage der Zeit, bis die moderne, lebenslustige Vorzeigehexe in einem schicken Prenzlberger Loft vegane Liebestinkturen literweise im Thermomix zaubert und für schmales Geld über Amazon verklingelt.

Man kann übrigens mutmaßen, dass die globale Corona-Krise dem Okkultismus wieder mehr Zulauf beschert. In einem Financial Times-Artikel über #WitchTok gibt die britische Forscherin Sarah Harvey zu bedenken, dass aus wissenschaftlicher Perspektive Krisenzeiten dafür sorgen, dass Menschen sich dem Okkulten zuwenden: „Das goldene Zeitalter des Spiritismus war zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.“ In diesem Kontext wollen wir nicht die ‚Gegenseite‘ vergessen. Denn die Parallelen zwischen der digital entstandenen QAnon-Bewegung und der sogenannten Satanic Panic, die in den Achtzigern in den USA aufkeimte, sind unübersehbar. Okkultismus als Feindbild; gerne auch mit Kindern als Opfer im Zentrum der Narrative.

Phänomen 3: Pray me Money – Moderne Wurzelbürsten

Wer kennt die famose Wurzelbürsten-Sequenz aus Loriots Satire „Pappa ante portas“? Kurz: Ein älteres Pärchen verkauft Abos für Wurzelbürsten und Badezusatz, mit dem Hinweis, dass man für den bevorstehenden Weltuntergang gereinigt sein sollte. In der digitalen Gegenwart finden sich ernstgemeinte Äquivalente.

Offiziell gehen Behörden zwar mittlerweile dazu über, Sekten als „religiöse Sondergemeinschaften“ zu bezeichnen, um sie weniger zu diffamieren. Aber letztendlich werden Mitglieder um ihr Geld gebracht, damit sie ihren unsterblichen Thetan, die Erleuchtung und so weiter finden. Dabei sollen sie andere Mitglieder in dubiosen Kampagnen rekrutieren – Aussteiger berichten von Verfolgung. Also ja, sagen wir „Sekten“ dazu.

Bei Scientology etwa basiert der ganze Zinnober auf den fixen Ideen des Science-Fiction-Autoren L. Ron Hubbard, in dessen Militärakte der Verdacht auf Geisteskrankheit notiert ist und der ein paar fixe Ideen von unsterblichen Wesen notiert hat. In aufwändigen Online-Kampagnen biedert sich Scientology potentiellen Neuzugängen an, z. B. versteckt unter dem Deckmantel von Anti-Drogen- Kampagnen oder auch Corona-Maßnahmen-Erklärvideos. Lockstoffe für Verzweifelte.

In einem Infostück des Hessischen Rundfunks berichten deutsche Aussteiger indes von ihrer Zeit bei der südkoreanischen christlichen Sekte Shincheonji. Sie wurden gezielt darauf angesetzt, über soziale Medien vermeintlich einsame Jugendliche zu kontaktieren und zu rekrutieren. Geld spielt auch hier eine Rolle; wenngleich wohl eine untergeordnete.

Und wer den schnöden Mammon ohne Umwege verlieren will, der wendet sich vertrauensvoll an den Ausverkauf spiritueller Integrität – sofern es die jemals gab: Astro TV. Vom Kartenlegen bis zum Verkauf charmant sinnloser Edelstein-Imitate tun die vermeintlichen Experten ab 1,99 €/min wirklich alles – ALLES –, wofür sich Hütchenspieler am Straßenrand schämen würden.

Epilog: Der Anfang

Hexenspaß auf TikTok, Okkult-Scharlatane im TV und Scientology ist nur einen Klick entfernt – das klingt ja apokalyptisch! Je nach Sekte stehen wir dem Weltuntergang ja auch näher, als dem Sonnenaufgang. Die Frage bei digitalen Angeboten ist letztendlich, wer vor dem Screen sitzt: Der Patient, der sich am Telefon den Segen abgeholt und deswegen gegen den Hausarzt entschieden hat?

Die Journalistin, die für einen informativen Beitrag über Sekten recherchiert? Oder sitzt da der Jugendliche mit Depression, der Massensuizid als Option sieht?

Robert Gryczke