
80. Ausgabe, 1. Quartal 2021
Homo Digitalis und seine Welt.Religion
Wie gehen die Weltreligionen mit digitalen Medien um? Nach wie vor bestimmt der Glaube in vielen Teilen der Welt Alltag und Politik. Aber ist das Internet nun Fluch oder Segen? Ein Parforceritt durch eine Welt mit koscheren Suchmaschinen, muslimischen Dating-Apps und digitalen Rattenfängern.
Weltreligionen nutzen Social Media, Videoplattformen und Apps, um Mitglieder zu erschließen und religiöse Filterblasen zu erschaffen. Sie sind Nutznießer von Technologie, die sie selbst zwar nutzen, aber nicht weiterentwickeln. Keine Wertung; nur eine Feststellung. #Amen
„Wir haben die Realität umprogrammiert. Sprache ist nur ein Virus, Religion ein Betriebssystem und Gebete sind einfach nur Spam.“
(Technical Boy, „American Gods“, Serie, seit 2017, basierend auf dem Roman von Neil Gaiman)
Prolog: Am Anfang war der Porno
Wenn wir über moderne Medienangebote reden, kommen wir an Pornografie nicht vorbei. Als der Autor dieses Textes auf der Suche nach einem Einstieg, über eine Vielzahl christlicher Filme stolpert, schmunzelt er kurz. Es ist schon ironisch, dass gerade ultrakonservative Strömungen in den USA – zumeist streng christliche Republikaner – den Heimkino-Markt mit bibelfesten Filmen wie „God‘s Not Dead“ torpedieren.
Warum? Die Pornoindustrie, also eines der Feindbilder bibeltreuer Christen, hat die Heimkino-Landschaft maßgeblich geformt. Schon im „Video War“ der Achtziger – VHS vs. Betamax vs. Video 2000 – waren die Schmuddelstreifen das Zünglein an der Waage. Warum? Sony ließ keine pornografischen Inhalte auf seinen Betamax-Kassetten zu. Kommerziell gesehen ein Fehler. Anfang der 2010 gab der größte Porno-Produzent Digital Playground bekannt, HD-Filme nur noch auf Blu-ray zu veröffentlichen. Das mag Einfluss auf den Formatkrieg mit der HD-DVD gehabt haben.
Kapitel 1: Das Trauerspiel des Sankt Telefonius
Wie die großen Religionen zu neuen Medien stehen, variiert stark. Darum sei vorangestellt, dass es zumeist zig Strömungen gibt: von erzkonservativ über gemäßigt bis hin zu mir-ist-alles-scheißegal. In letzterer posten jüdische Influencer Bilder ihrer Schweineschnitzel auf Instagram, in ersterer ist schon das Knipsen mit dem Smartphone „haram“ (arab. „verboten“) und wird am Jüngsten Tag mit furchtbaren Qualen bestraft. So, als müsste man die Nutzungsbedingungen für ein iPhone komplett durchlesen.
In besonders konservativ ausgeprägten Teilen der Amischen sind moderne Kommunikationsmittel wie Smartphones oder Computer ein Tabu, obwohl in Notfällen die Nutzung erlaubt wird. Seit einigen Jahren wird das unsägliche Bild des weltfremden Amischen durch die Popkultur getrieben; eine grundfalsche Auffassung dieser Glaubensgemeinschaft. Diese bibeltreuen, radikal-reformatorischen Christen sind eben nicht weltfremd, sondern entscheiden sich im Zweifelsfall ganz bewusst gegen den Fortschritt. Kann man auch doof finden, klar. Kann man übrigens alles nachlesen auf der offiziellen Amischen-Website.
Orthodoxe Juden hingegen erfreuen sich seit einiger Zeit am ‚koscheren Smartphone‘. Was daran koscher ist? Alles! Was daran smart ist? Nicht so viel! Die koscheren Mobilfunktelefone sind nicht internetfähig und unterstützen keine SMS oder andere Messengerdienste. Warum? Eine Studie im Fachjournal New Media & Society kommt zu dem Schluss, dass die Möglichkeit Textnachrichten zu verschicken, schlichtweg zu viel unkontrollierte Privatsphäre einräumt. Telefonate könne man in den oft großen Lebensgemeinschaften immer mithören, aber Messengerdienste laden ja regelrecht dazu ein sich ungestört auszutauschen. Pfui Deibel! Und das koschere Smartphone verfehlt seine Wirkung nicht. Viele orthodoxe Juden besitzen nun zwei Smartphones, ein koscheres und ein smartes.
Kapitel 2: Was Gott matcht, soll der User nicht entliken
Nun mögen erzkonservative religiöse Strömungen die meisten Errungenschaften der modernen Welt für ein One-Way-Ticket in die Hölle halten, aber Liebe ist unantastbar. Und wenn man in einer multikulturellen Gesellschaft ja quasi an jeder Straßenecke dazu gezwungen wird, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen, muss es doch wenigstens in puncto Liebe und Untenrum einen Safespace für diesen Tellerrand geben. Gibt es!
Jüdische Singles matchen sich mit dem koscheren Tinder-Klon JCrush. Nicht, dass man plötzlich Atheisten oder andere Verfluchte datet. Die App hat übrigens alle Funktionen, Swipen -> Matchen -> Schreiben, vom infamen Vorbild übernommen, allerdings nicht dessen Datensicherheit. Und so machte die App 2019 Schlagzeilen, als Spezis für Online-Sicherheit unkompliziert auf die komplette Nutzerdatenbank zugreifen und teilweise punktgenaue Geodaten der User abgreifen konnten. Oy vey!
Bei den Christen gibt es das natürlich auch. Angebote wie cxSingle sind ausschließlich für Leute, die ihren Glauben aktiv ausleben. Oh Gott, oh Gott, ja, oh Gott. Gut zu wissen: Christen unter 24 bekommen den Premium-Account gratis. Sind Christen unter 24 denn besonders schwer vermittelbar?
Aber wo bei JCrush und cxDate die Angabe der religiösen Ausrichtung genügt, geht die Dating-App Muzmatch den nächsten Schritt. Sie bietet eine maßgeschneiderte Lösung für Muslime an. Mit einer Auswahl von „liberal“ bis „prays always“ können Muslime angeben, wie stark sie ihren Glauben ausleben. Bei Bedarf kann man Eltern oder einen religiösen Betreuer („Wali“) zum Chat dazuschalten und angeben, wann man heiraten möchte. Liebe nach Maß und mit Aufsicht. Auch eine Idee.
Kapitel 3: Rattenfänger.TV
Nun sind koschere Suchmaschinen – ja, es gab ein „Koogle“ – und religionsspezifische Dating-Apps Dinge mit Diskussionspotential. Man könnte über religiöse Filterblasen reden. Aber in Zeiten der Covid-19-Pandemie kann man zumindest auch erwähnen, dass unter anderem die Evangelische Kirche ein breites digitales Angebot, inklusive Gottesdienste, Seelsorge, Religionsunterricht anbietet. Denn wenn Menschen in Religion Hoffnung finden, warum dann nicht wenigstens ansteckungsfrei?
Leider bleibt es nicht dabei. Denn dort, wo Menschen mit wenig Medienkompetenz, persönlichen Problemen und bedauerlich wenig Abstraktionsvermögen den falschen Klick machen, ist der Weg zum antidemokratischen und menschenfeindlichen Weltbild nicht weit. Und so verbreiten ultrakonservative Katholiken auf Gloria.TV die neusten Anti-Impf-Spukgeschichten, wissen, dass die Homo-Ehe und Abtreibungen eine Herausforderung Satans sind und sammeln auf digitalem Boden allerlei bibeltreue Fanatiker.
An anderen Ecken des Netzes werden Jugendliche und junge Menschen mit den Lehren/Leeren eines extremen Islams konfrontiert, irritiert und radikalisiert. In einer NDR-Reportage von 2016 recherchiert eine Journalistin verdeckt und fragt ein Mitglied der salafistischen Szene, wie er denn überhaupt in diese gekommen sei. Antwort: „Ein Video von Pierre Vogel* bei Youtube. Dann bin ich auf die Seite von der wahren Religion gekommen. [...]“
*Pierre Vogel: Prediger der deutschen Salafismus-Szene, Konvertit, gilt als extremistisch.
Epilog: Mein Name ist Internet, denn wir sind viele
Und nun? Die Weltreligionen finden Technik nur solange gut, wie sie sich damit noch mehr ausgrenzen können, und wer nicht wegklickt, wird zum IS-Attentäter wegkonvertiert? Klingt fast so. Der vorliegende Text ist allenfalls ein Aus- aber kein Querschnitt. Okkulte Cyberangriffe und Online-Religionen müssen an anderer Stelle entdeckt werden. Es bleibt aber im Gedächtnis, dass das Internet und digitale Anwendungen glücklicherweise nicht das Mittelalter 2.0 sind, auch wenn manch eine Kommentarspalte etwas anderes vermuten lässt. Richtig genutzt und sicher navigiert, kann es sachlich über Religion aufklären, verschiedene Strömungen vernetzen und einen nüchternen Diskurs starten. Alles das, was dieses Essay glücklicherweise nicht will.
Autor: Robert Gryczke