59. Ausgabe, 4. Quartal 2015

Andreas Brohm, Bürgermeister von Tangerhütte

Meine Frau meint, ich bin süchtig

Das volle Programm Social Media in der Provinz: Der Tangerhütter Bürgermeister Andreas Brohm schickt täglich Posts, News und Bilder an seine Wähler.

Was treibt jemanden dazu, nach 15 Jahren als weitgereister Musical-Manager Bürgermeister einer Kleinstadt in der altmärkischen Provinz zu werden? Wenn einer wie Andreas Brohm das Jetset-Leben mit dem Knochenjob des Tangerhütter Bürgermeisters tauscht, dann schütteln manche mit dem Kopf. Was will der da? Und überhaupt: Was macht das mit den Tangerhüttern? Was hat man von einem Bürgermeister zu halten, der sich per Smartphone unentwegt mitteilt, sein Publikum aber nicht selten im Funkloch der Altmark begraben liegt? Der Server begab sich auf eine Reise in die Provinz mit überraschenden Erkenntnissen.

Jede Stadt bekommt den Bürgermeister, den sie verdient. In Tangerhütte ist das eine ziemlich eindeutige Sache. 72,7 Prozent der Wahlberechtigten des 11.000-Einwohner-Städtchens haben ihn gewollt. Ein selten klares Wahlergebnis, erreicht bei der Kommunalwahl 2014. Der Überraschungserfolg des parteilosen Quereinsteigers gibt Rätsel auf und ist nur zum Teil erklärbar. Wahrscheinlich am ehesten noch mit seiner Herkunft als Tangerhütter und dem jahrelangen Drama um seine überforderte Vorgängerin, die der Stadtrat abwählte. Erklärbar wohl auch durch seine forsche Art des Wahlkampfs. Er hat den Leuten eben keine Kugelschreiber vorm Supermarkt aufgedrängelt und ist den Kindern auch nicht mit Luftballons hinterhergerannt.

Andreas Brohm (37) hat stattdessen die Klaviatur der Moderne gespielt. Er hat getwittert und gesimst, geknipst und gequatscht: „Acht Wochen lang war ich täglich in der Stadt und den dazugehörigen Dörfern unterwegs. Tangerhütte ist zwar halb so groß wie Berlin, hat aber nur 11.000 Einwohner. In drei Monaten siehst du hier jeden mindestens dreimal.“ Der Heimkehrer aus freien Stücken tat das, was er zehn Jahre als Manager von Musicals wie „We Will Rock You“ oder „West Side Story“ gelernt hat:

„Du musst bei den Leuten kompetent, sympathisch und vertrauenswürdig ankommen. Und das schaffst du nur, wenn sie dich anfassen können und jeden dritten Tag was von dir hören.“

Andreas Brohm lädt zum Wahlpicknick ein. Da geht er von Tisch zu Tisch, hört zu, erzählt von sich. Seine Weltgewandtheit färbt ab. Der Tangerhütter an sich ist wieder wer: Da interessiert sich jemand für sie, der auch in London, Zürich, Paris oder Berlin was geworden wäre. Ein bisschen von dem Glanz des weitgereisten Kandidaten fällt nun auch auf ihre Stadt. Andreas Brohm sagt ihnen, dass er mit seiner Familie sesshaft werden will. Er, der hier Geborene, seine Frau aus Polen, die in Berlin geborenen Kinder Maximilian und Clara. Sie alle wollen ankommen, ein Zuhause finden. Bleiben. Für immer. Gern hier. Wenn sie denn so einen wollen in Tangerhütte; einen Bürgermeister, der null Ahnung von Verwaltung hat, aber randvoll ist mit Visionen, Tatendrang und Ideen.

Sie wollen ihn, sie wählen ihn und sie holen ihn also zurück. Ein Stückchen große weite Welt für das alte Dorf Vaethen mit seinen einst 345 Einwohnern, das erst durch den Bau einer Eisenhütte (1842) zum klangvollen Namen Tangerhütte und zum stolzen Stadtrecht kam, aber seit Wende und Schließung der Eisengießerei „1. Mai“ wieder schrumpfende Provinz ist. Der alte Neue enttäuscht sie nicht. Er denkt und spricht wie die Leute, die sonntags zum Spiel von Germania Tangerhütte gehen oder im Wildpark Weißewarthe die Wege harken: „Es interessiert doch keine Sau, was Verwaltung macht. Für die Leute ist nur wichtig, dass der Müll wegkommt, die Straßenlaterne brennt und der Kindergarten nett ist.“ Brohm sieht zu, dass seine 30 Mitarbeiter geräuschlos ihren Job machen können. Um den Rest kümmert er sich selbst:

„Wir stellen uns als Gemeinde ja völlig neu auf. Wir wollen überregional stärker wahrgenommen werden, damit andere, vor allem Touristen, Ausflügler, Investoren auf uns aufmerksam werden. Als Bürgermeister bist du dein eigener Pressesprecher, Redenschreiber, Wirtschaftsförderer. Was du in der Außenwerbung nicht selbst machst, bleibt eben liegen.“

Und in Sachen Marketing ist Andreas Brohm fit wie ein Turnschuh. Seine erste Amtshandlung: Er bittet die KID, seine Dienstmails auf sein Handy umzuleiten: „Gästebücher auf Internetseiten werden doch kaum noch genutzt. Wenn, dann mailen oder rufen dich die Leute gleich direkt an.“ Dinge, die er nicht verpassen will. Brohm legt sein Smartphone so gut wie nie aus der Hand. Wer sich missachtet fühlt, weil er alle paar Minuten auf das Display schaut, hat eben Pech gehabt. Hier eine Mail, da ein Post – Brohm will wissen, wer sich warum für Tangerhütte interessiert. Jederzeit. Immer. Sofort. Wenn es gerade einmal niemand tut, dann twittert er eben die Vorzüge seiner Heimat in die Welt. Auf Twitter ist er als andreas_brohm unterwegs. Binnen eines Jahres hat er 190 Follower gewonnen. Er hat mehrere E-Mail-Adressen, seine Handynummer steht auf der Stadthomepage und unter jeder Pressemitteilung. Auf Instagram bekommen mindestens 75 Fans seine Fotos zu sehen. Werden sie von denen geteilt, geht es schnell in die tausende. Brohm, der Social Media-Experte, ahnt, dass er damit die Mehrzahl seiner Wähler überfordert: „Bei einem Durchschnittsalter jenseits der 50 ist sicher nicht jeder ständig mit dem Handy unterwegs.“

Und selbst wenn, in und um Tangerhütte könnte sie ohnehin nicht immer alles empfangen. Die Altmark hat mehr Funklöcher als Tangerhütte den Buchstaben „t“ im Namen, und der Breitbandausbau in Sachsen-Anhalt ist in Deutschland Schlusslicht, und vom Schlusslicht das Ende, das ist die Altmark. Deshalb ist für Brohm der Breitbandausbau so eminent wichtig:

„Wenn es da nicht vorwärts geht, bleiben wir immer Provinz. Ein schnelles Netz aber macht uns konkurrenzfähig mit jeder Metropole der Welt. Dann ist es egal, wo du sitzt, dann entscheidet nur noch dein Produkt.“

Für Andreas Brohm geht es ohnehin noch nicht darum, jeden Tag jeden seiner Wähler zu erreichen: „Das kommt noch, ich leiste hier Aufbauarbeit für die nächste Generation.“

Vorerst geht es ihm darum, Interessierte überhaupt über seine Arbeit, seine Projekte, seine Ideen zu informieren.

„Ich wüsste nicht, wie ich ohne neue Medien an Leute herankommen sollte. Die Tageszeitung leistet sich vielleicht noch jeder Dritte und bringt Aktuelles, wenn mal Platz im Blatt ist. Im Anzeigenblatt hat Werbung und nicht Information Priorität. Für Fernsehen und Radio ist Tangerhütte zu klein, für ein funktionierendes Bürgermedium noch zu uninteressant.“

Um die Aufmerksamkeit auf seine Gemeinde und seine Art der Amtsführung zu lenken, nutzt Andreas Brohm jede Gelegenheit: „Gehe ich zu einem Termin, habe ich die Pressemitteilung schon vorher geschrieben und poste sie noch während der Veranstaltung. Sitze ich in einer Tagung, suche ich immer als erstes nach einem interessanten Fotomotiv für Instagram.“ Neulich habe er im Regionalausschuss Tourismus Altmark gesessen und das Foto einer Einkaufstüte mit der Aufschrift „Altmark – grüne Wiese mit Zukunft“ gepostet. 20 Minuten später hatte er 20 Likes und verblüffte die Runde, indem er einfach nur sein Handy hochhielt und sagte: „Wir können hier reden, was wir wollen, wenn es die Menschen nicht erreicht, haben wir nur Zeit verschwendet. Hier, unsere Werbetüte gefiel binnen 20 Minuten 20 Leuten.“ Andererseits hat er aber auch erfahren müssen, dass politische Botschaften kaum auf Widerhall im Netz stoßen: „Veröffentlichst du aber ein Sonnenaufgangsfoto aus dem Tangerhütter Forst, dann hast du binnen Minuten dutzende Likes. Je emotionaler du bist, desto mehr wirst du beachtet.“

Deshalb setzt er in seiner Art der Kommunalpolitik vorzugsweise auf emotionale Themen. Er hat ein Bürgercafé im lange vergessenen Tangerhütter Schloss initiiert, ein Netzwerk „Neue Nachbarn“ aufgebaut, über das sich hilfsbereite Nachbarn finden, um sich um Flüchtlingsfamilien zu kümmern. Auf diese Art hat Andreas Brohm sein Tangerhütte schon auf Spiegel-Online oder Welt-Online platziert: „Die nehmen unsere Projekte wahr und berichten darüber. Hätte ich mich da auf andere Medien verlassen, wäre gar nichts passiert.“

Selbst Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff lockte Andreas Brohm auf seine hemdsärmelige Onlinetour schon zweimal nach Tangerhütte:

„Ich hab’ ihn einfach auf Twitter angeschrieben und zu Kaffee und Kuchen ins Bürgercafé eingeladen. Plötzlich war er da, als er bei seiner Tandemtour mit der Ehefrau nach Tangerhütte abbog.“

Eine Begegnung mit Folgen, denn neulich schaute er wieder auf einen Sprung im Rathaus vorbei – zwischen zwei Terminen in Osterburg und Magdeburg. Verabredet via Twitter zwischen Brohm und Haseloff.

In solchen Momenten kann sich der junge Tangerhütter Bürgermeister das Grinsen nicht verkneifen: „Meine Frau sagt oft zu mir, ich solle das Handy weglegen, ich sei ja schon süchtig. Sie hat zwar Recht, aber ohne diese Sucht hätte es auch diesen Artikel nie gegeben.“

Stimmt. Der SERVER ist tatsächlich erst auf Tangerhütte aufmerksam geworden, weil man den Tweets und Mails von Andreas Brohm kaum mehr entgehen kann. Penetranz, die sich auszahlt.

Autor: Jens-Uwe Jahns