
78. Ausgabe, 3. Quartal 2020
Wahlkampf in Corona-Zeiten oder Stimmenfang im Netz
Die wachsende Bedeutung von Social Media am Beispiel des OB-Wahlkampfes in Halberstadt
Spätestens seit Obamas erfolgreichem Internet-Wahlkampf 2008 wissen Politiker, das soziale Medien das Zünglein an der Waage sein können. Wer auf Facebook, Instagram & Co pfeift, kann sich eine Kandidatur oft gleich ganz sparen. Beim Oberbürgermeister-Wahlkampf in Halberstadt lieferten sich die am Ende drei erfolgreichsten Kandidaten auch einen heißen Wettbewerb im Netz. Es ging um Präsenz und Politik, um Sympathie und Stimmen, um Follower und Tweets. Und am Ende natürlich um den Sieg und das Amt. Dass der erfolgreiche Kandidat auch der eifrigste Netzarbeiter war, ist kein Zufall.
Im Frühsommer wählte Halberstadt einen neuen Oberbürgermeister. Der Amtsinhaber – Andreas Henke – hatte seinen Job knapp 14 Jahre lang solide, allüren- und skandalfrei gemacht. Der Linke vertraute auf sein Standing in der Stadt:
„Ich bin Halberstädter, liebe meine Stadt und habe mir in den letzten 14 Jahren kaum ein freies Wochenende gegönnt. Ich habe auf meinen Amtsbonus, meinen Bekanntheitsgrad und auf die Tatsache vertraut, dass in Deutschland ein bodenständiger, ehrlicher Oberbürgermeister nur ganz selten abgewählt wird.“

Andreas Henke aber wurde abgewählt. In der Stichwahl vom 5. Juli 2020 musste er sich mit 41,7 Prozent den 58,2 Prozent des CDU-Kandidaten Daniel Szarata geschlagen geben. Eine faustdicke Überraschung oder ein Amtswechsel mit Ansage?
Mit Abstand ein virtueller Wahlkampf
Nur selten haben soziale Medien in Kommunalwahlkämpfen Sachsen-Anhalts eine so entscheidende Rolle gespielt, wie in diesem Sommer in Halberstadt. Notgedrungen müssen in einem Wahlkampf mit Abstand virtuelle Botschaften den Infostand vor dem Supermarkt ausgleichen. Es dürfte kein Zufall sein, dass die beiden erfolgreichsten Herausforderer fast zwei Jahrzehnte jünger als der Amtsinhaber sind und sich gewieft im Umgang mit Facebook, Instagram & Co zeigen. Der von der Wahlniederlage sichtlich überraschte Amtsinhaber Andreas Henke gesteht dann heute frank und frei:
„Die Rolle der sozialen Medien habe ich womöglich unterschätzt.“
Dabei hat Andreas Henke mit 4.410 Facebook-Freunden fast doppelt so viele wie Wahlsieger Daniel Szarata (2.035) oder gar der mit 14,8 Prozent im ersten Wahlgang drittplatzierten Denis Schmid (547) von der „Wählervereinigung Bürger unseres Kreises ohne Parteibuch“ (Buko). Doch die Zahl der Freunde ist am Ende nicht kriegsentscheidend, wie Denis Schmidt glaubt:
„Ich denke, es kommt auf die Frequenz und die inhaltliche Qualität der Postings an.“

In dieser Kategorie hat CDU-Kandidat Szarata klar die Nase vorn: Unter seinem Hashtag #halberstadtkannmehr fanden sich zum Stichtag 31. August 2020 bei Google 41.900 Treffer. Eine gigantische Trefferanzahl, die nur mit langem Atem und einer gewissen Penetranz zu erreichen ist. Daniel Szarata: „Ja, das habe ich konsequent durchgezogen.“ Andreas Henke kommt mit seinem Hashtag #wirgemeinsamwollenkönnenmachen auf lediglich 422 Google-Einträge, Denis Schmid mit #gemeinsamfürhalberstadt gerade einmal auf 213 Treffer.
Die Aktivitäten auf Instagram wiederum zeigen ein anderes Bild. Hier war der Wahlverlierer Andreas Henke aktiver. Er kann auf 2.254 Abonnenten und auf 1.559 Beiträge verweisen. Die Abfrage für Daniel Szarata ergibt „nur“ 1.401 Abonnenten und 362 Beiträge. Denis Schmid hat Instagram eher stiefmütterlich behandelt: Seine per 31. August registrierten 9 Beiträge hatten 129 Nutzer abonniert.
Desto mehr Follower, desto unabhängiger vom Mainstream
Die Zahlen belegen, dass soziale Medien in Kommunalwahlkämpfen ganz neue partizipative Werkzeuge, Distributionskanäle und Organisationsmöglichkeiten bieten, die sich beim Wettbewerb um Wählerstimmen als enorm wertvoll erweisen. Wer es schafft, sich über eigene Kanäle ein breites Publikum aufzubauen, ist weniger abhängig von der oft verbiesterten Gleichmacherei bzw. Zurückhaltung und dogmatischen Einheitlichkeit der alteingesessenen Lokalmedien sowie von den Zufällen im Straßenwahlkampf. Szarata beschreibt seine Wahlkampferfahrungen so:
„Als Herausforderer ohne öffentliches Amt findet man in den Lokalmedien kaum statt. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich sein eigenes Medium aufzubauen. Je länger man dafür Zeit hat, desto größer der Wirkungskreis.“

Szarata betreibt sein Facebook-Account seit 2012, im Wahlkampf 2020 baute er sich sogar einen erfolgreichen WhatsApp-Newskanal auf – mit am Ende beachtlichen 450 Abonnenten. Auch bei Twitter hat er im Kandidatenvergleich deutlich die Nase vorn: Szarata „zwitscherte“ seinen 487 Followern 1.034 Tweets hinterher, Andreas Henke brachte es auf 263 Tweets und 104 Follower. Denis Schmid nutzte das Medium gar nicht: „Ich bin stellvertretender Kommandeur eines Versorgungsbataillons der Bundeswehr und kann nicht meine komplette Freizeit für die vielen Kanäle opfern.“
Atemberaubende Geschwindigkeit
Die Geschwindigkeit unseres kommunikativen Wandels ist atemberaubend. Google gab es vor 21 Jahren noch gar nicht, Facebook, Twitter oder YouTube existierten vor 16 Jahren ebenso wenig. Die Effekte des Wandels sind für jeden politischen Ideen-Wettstreit eine Herausforderung. Und eine Chance. Das wird auch deutlich, wenn man sich die ARD/ZDF-Onlinestudie 2019 anschaut. 2019 nutzten rund 90 Prozent der Bevölkerung das Internet gelegentlich. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind 71 Prozent der Befragten an einem normalen Tag online, 2018 waren es noch 67 Prozent. Bei den 14- bis 29-Jährigen beträgt die Tagesreichweite sogar 98 Prozent. 83 Prozent der Bevölkerung nutzen das Smartphone, junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren sogar zu 100 Prozent. Drei Viertel der Bevölkerung (76 Prozent) kommunizieren täglich über WhatsApp, 21 Prozent nutzen Facebook und 13 Prozent Instagram.
In Halberstadt hat Daniel Szarata die immensen Möglichkeiten der sozialen Medien früh erkannt und im Wahlkampf effektiv genutzt. Das hat mehrere Gründe. Zum einen war er mit 38 Jahren der jüngste im Bewerberfeld und bewies über sieben Jahre einen langen Atem. Nach der für ihn schmerzhaften Niederlage bei der OB-Wahl 2013 plante er seinen zweiten Versuch mit Geduld und Akribie. Die erfolgreiche Kandidatur bei der Landtagswahl 2016 war ein wohl überlegter Zwischenschritt. Mit seinem Landtagsbüro und eigenen Mitarbeitern im Rücken stellte er sich für seine eigentliche Schicksalswahl professionell auf. Das wird vor allem in seinen Videoclips deutlich. Während sich andere mit Selfies und Monitorkamera im Home-Office begnügten, postete der Christdemokrat sein Material in Spiegelreflex- und Studioqualität. Anerkennend räumt Denis Schmid ein, dass Szarata als Landtagsabgeordneter „nicht nur einen Wissensvorsprung, sondern auch eine vom Wähler akzeptierte Kompetenz“ hatte. In Corona-Zeiten ein echtes Pfund. Schmid: „Hätte ich z. B. als Erster in Halberstadt auf Facebook verkündet, dass das Land die Kita-Beiträge im Lockdown übernimmt, hätten es mir nur wenige geglaubt. Daniel Szarata haben das die Leute aber abgenommen. Mich wundert nur, dass Amtsinhaber Henke so zurückhaltend war.“

Zurückhaltung im Netz kostet Stimmen
Der Linkspolitiker stolperte am Ende wohl tatsächlich auch über seine selbst auferlegte Zurückhaltung: „Ich habe alles, was wir in Halberstadt erreicht haben, als Gemeinschaftswerk gesehen. Ich bin nicht der Typ, der etwas nur für sich reklamiert und den Lautsprecher gibt.“
Sein Herausforderer sieht das anders. Daniel Szarata glaubt, dass „vor allem mein Engagement für die Stadt, meine Initiativen für mehr Lebensqualität und meine Initiativen für mehr Gemeinsinn den Ausschlag gegeben haben.“ Szarata unterstützte wesentlich die Etablierung der „Halberstädter Eiszeit“, einer Schlittschuhbahn mit angrenzendem Wintermarkt und ist von Anfang an Schirmherr der Veranstaltung. Er war Ideengeber für einen Weihnachtsmarkt auf dem Domplatz, für den er mit der CDU in jedem Jahr den Weihnachtsbaum organisiert. Er managt seit Jahren ein Sommerkino und zuletzt, wegen der Corona-Pandemie, ein Autokino: „Die Leute nehmen mir meinen Einsatz ab und sind offenbar zu der Überzeugung gelangt, dass ich Dinge bewegen kann. Halberstadt kann eben mehr, es muss nur einen geben, der vorangeht.“ Er ließ kaum eine Gelegenheit aus, der Netzgemeinde seine Umtriebigkeit, Vor-Ort-Präsenz und seinen Informationsvorsprung als MdL mitzuteilen. Als omnipräsenter Amtsbewerber wandelte der Christdemokrat dabei indes auf schmalem Grat: Würden die User dies mit ihrer Stimme honorieren oder sich vom Dauerfeuer genervt abwenden?
Bereits nach dem ersten Wahlgang stand fest: Daniel Szarata hat alles richtig gemacht und den Beweis erbracht, dass Social-Media-Präsenz entscheidende Stimmen bringen kann. Er selbst schätzt ein, ein Viertel seiner Stimmen durch Netz-Aktivitäten geholt zu haben: „Weitere 65 bis 70 Prozent habe ich wahrscheinlich wegen meines persönliches Engagement bekommen und nur maximal zwei, drei Prozent durch klassische Plakatwerbung.“

Die Wirkung des Netzes unterschätzt
Andreas Henke hängt die Bedeutung der neuen Medien weniger hoch: „Das Social-Media-Publikum bildet nicht den Querschnitt der Gesellschaft ab, viele tausend Halberstädter nutzen es gar nicht. Dennoch räume ich heute ein, die Wirkung möglicherweise unterschätzt zu haben.“ Mag sein, dass mehr Präsenz im Netz ein paar hundert Stimmen mehr gebracht hätte, aber ob das zur Wiederwahl gereicht hätte? Andreas Henke hat einen anderen Grund ausgemacht: „Die CDU musste 30 Jahre lang auf einen OB in Halberstadt verzichten. Für die war das Spitzenamt im Rathaus ein Prestigeprojekt. Die CDU hat viel Geld investiert und mit allen Mitteln dafür gekämpft, dass sich ihr Kandidat durchsetzt.“
Denis Schmid ist überzeugt davon, „dass heute kein Kandidat mehr ohne Social-Media-Präsenz auskommt.“ Das gehöre einfach dazu und verstärke die eigenen Chancen. Soziale Netzwerke erlauben vielen Sendern mit vielen Empfängern zu kommunizieren, was insbesondere Feedback-Prozesse neu möglich macht.
Im Netz war Daniel Szarata einfach schneller, vielseitiger und gewiefter als alle anderen fünf Kandidaten. Als Wahlsieger weiß er spätestens jetzt, dass sich der Aufwand – auch außerhalb von Wahlkämpfen - lohnt: „Nie zuvor war es leichter, weite Bevölkerungsschichten zeitlich und örtlich ungebunden in Beteiligungsprozesse einzubeziehen.“ Gegenüber dem „Server“ hat er bereits angekündigt, mit seinem Amtsantritt zum 1. Januar 2021 die öffentliche Debatte zu kommunalpolitisch wichtigen Themen deutlich stärker als bisher über SocialMedia zu führen: „Darauf freue ich mich schon.“
Autor: juj