Digitalisierung verändert das Lernen und Zusammenleben – viele Fähigkeiten bleiben auf der Strecke

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer polarisiert. In Büchern wie „Digitale Demenz“ oder „Die Smartphone Epidemie“ sowie in Vorträgen, Presse-, Funk- und Fernsehinterviews warnt der Gehirnforscher eindringlich vor den schädlichen Nebenwirkungen eines übermäßigen Internet-Gebrauchs. Vor allem Kinder sind gefährdet. Manfred Spitzer hat in Freiburg Medizin, Psychologie und Philosophie studiert. Nach seiner Habilitation für das Fach Psychiatrie war er als Oberarzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg tätig. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in den USA prägten sein weiteres wissenschaftliches Werk. Seit 1997 ist Manfred Spitzer Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. 2004 gründete er das Transfer Zentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL).

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer

Im Smart Home nimmt uns Alexa oder Siri Aufgaben ab. Auf der Straße ist das Navi unsere Orientierung. Das Smartphone ist unser Terminkalender. Dank Sozialer Medien müssen wir nicht mehr vor die Haustür gehen, um Freunde zu finden ... Was geschieht hier mit uns?    
Eine ganze Menge! Zunächst einmal gilt ganz allgemein: Unser Gehirn wird – wie ein Muskel – immer dann trainiert, wenn wir es benutzen. Wenn wir es nicht benutzen, nimmt seine Leistungsfähigkeit ab. Telefonnummern haben wir heute kaum noch im Kopf, das Kopfrechnen und das Zurechtfinden auch nicht. Besonders dramatisch ist es, wenn das „Auslagern“ geistiger Arbeit in Kindheit und Jugend geschieht, denn dann wird die Gehirnentwicklung beeinträchtigt. Wer beispielsweise schon in jungen Jahren seine sozialen Kontakte vor allem am PC oder Smartphone abwickelt, der lernt nachweislich keine Empathie – mit fatalen Konsequenzen für unsere gesamte Gesellschaft: Menschen helfen bei Unfällen nicht mehr, sondern fotografieren. Und wir diskutieren seit über einem Jahr ein Gesetz des Inhalts: Man filmt keine Sterbenden und Toten. Weniger Mitgefühl geht kaum noch!  

Dank Suchmaschinen müssen wir nicht mehr viel selbst wissen. Wer aber kein Basiswissen hat, kann auch kein Transferwissen herstellen. Welche Konsequenzen hat das?  
Der Nutzen von Suchmaschinen hängt ganz entscheidend davon ab, wie viel man schon weiß! Wer kein Vorwissen hat, der hat übrigens auch keine Fragen – und wird daher gar keine Suchmaschine benutzen. Er kann es auch nicht!
Das Googeln klappt grundsätzlich umso besser, je besser man sich in dem Sachgebiet schon auskennt. Es wird oft so getan, als gäbe es eine allgemeine Fähigkeit, die Wahrheit von Falschheit zu unterscheiden – man nennt sie gerne „Medienkompetenz“ oder „Informationskompetenz“. Diese allgemeine Fähigkeit jedoch gibt es nicht, und es kann sie auch gar nicht geben. Man muss sich in einem Sachgebiet auskennen, dann – und nur dann! – kann man Aussagen über dieses Sachgebiet leicht als wahr oder falsch einschätzen.

Wohin kann solch unbedarftes Googeln führen?
Mein Lieblingsbeispiel hierfür ist „Morbus Google“: Ingenieure der Firma Microsoft haben im Jahr 2009 tausende medizinbezogene Internet-Recherchen, die auf der weltgrößten Suchmaschine ausgeführt worden waren, wissenschaftlich ausgewertet. Sie fanden dadurch heraus, dass diese Suchanfragen in aller Regel nach im Durchschnitt etwa 90 Minuten ergebnislos enden. Zugleich hat das Suchen den Menschen große Angst gemacht, weil sie bei der Suche nach „Kopfschmerzen“ im Nu bei „Hirntumor“ landeten. Ohne Grundwissen konnten sie nicht einordnen und bewerten, was Google ihnen auf den Bildschirm warf.
Mein Vorwissen ermöglicht mir, unbekannte Einzelheiten zu finden, damit bestehendes Wissen zu verfeinern und neues Wissen hinzuzugewinnen, das mich beim Problemlösen weiterbringt. In der Cloud ist kein Wissen. Dort sind Informationen gespeichert, die in meinem Kopf zu Wissen werden, indem sie mit meinem bereits bestehenden Wissen verknüpft werden und dadurch Handlungsrelevanz bekommen.  Anders geht es gar nicht.

Wie gefährlich ist es für Kinder, stundenlang auf Smartphone-Displays zu gucken und über Tablets zu wischen?             
Die gesundheitlichen Schäden durch digitale Informationstechnik und insbesondere durch das Smartphone  sind erheblich und in ihrer Summe reden wir von viel Leid und sehr vielen Toten: Smartphones verursachen Kurzsichtigkeit, Angst, Depression, Demenz, Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, Diabetes, Bluthochdruck und ein erhöhtes Risikoverhalten beim Geschlechts- und Straßenverkehr. Die Nutzung von sogenannten Geo-social Networking Apps fördert täglich millionenfachen Gelegenheitssex und damit eben auch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Was den Straßenverkehr anbelangt, so wissen die Wenigsten, dass Smartphones mittlerweile bei jüngeren Verkehrsteilnehmern den Alkohol als Unfallursache Nummer eins abgelöst haben.

Die Bundesregierung stellt den Ländern 137 Millionen Euro für den Ausbau der Schul-IT zur Verfügung. Auch Grundschulen sollen digitaler werden. Das ermöglicht einerseits einen abwechslungsreicheren, spannenderen Unterricht. Andererseits wird Handschrift vermutlich immer weniger geübt werden.  Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Ich sehe das sehr kritisch: Digitale Medien lenken ab und schaden dem Lernen an Schulen – dies haben unzählige Studien nachgewiesen.

Wie könnte ein Gegenkonzept aussehen?
Wir müssen die nächste Generation vor den Gefahren schützen, per Gesetz. Das gibt es in Südkorea bereits. Wann übernehmen wir endlich Verantwortung?

bek