
61. Ausgabe, 2. Quartal 2016
Als Deutschland sein eigenes Facebook hatte
Der atemberaubende Aufstieg und tragische Fall von StudiVZ
Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wandelt sich die Welt so schnell wie in unseren Tagen. Was gestern noch der letzte Schrei war, kann heute schon museumsreif sein. Vor allem das Internet hat das Leben der Menschen revolutioniert. In einer neuen Serie erinnert der SERVER an Innovationen, die noch keine 20 Jahre alt und schon fast vergessen sind. In der ersten Folge widmen wir uns dem Auf- und Abstieg von „StudiVZ“.
Es gab Zeiten, da hatten wir in Deutschland unser eigenes Facebook. Und das ist noch keine elf Jahre her! 2005 war es, als „StudiVZ“ gegründet wurde. Vier Jahre später waren dort schon 6,2 Millionen User angemeldet. Die Geschichte von StudiVZ beweist, dass auch in Deutschland Startups mega-erfolgreich sein können – und genauso schnell in der Versenkung verschwinden.
Gegründet wird StudiVZ von den Studenten Ehssan Dariani und Dennis Bemman. Ihre Geschichte beginnt wie so vieles im Leben schon sehr viel früher. Im Grunde im Jahr 1986, als die Familie des sechs Jahre zuvor in Teheran geborenen Ehssan Dariani aus dem Iran nach Deutschland flüchtet. Als Flüchtlingskind ist er Außenseiter, einer, der sich zehn Mal mehr anstrengen muss, um die gleichen Chancen zu haben wie die anderen. Dariani nimmt seine Rolle als unangepasster Outcast an. Mag sein, dass Gründer genau so sein müssen: starker Wille, Altes ständig in Frage stellen, verrückt sein, vor kreativer Energie platzen und nur geringe Chancen auf den üblichen Karrierepfaden haben.
1997 gewinnt Dennis Bemmann aus Salzgitter mit 18 den fünften Platz bei „Jugend forscht“ in der Kategorie Mathematik und Informatik. Den Preis bekommt er für sein Computerspiel, bei dem Nutzer nicht selbst spielen, sondern zuvor geschriebene Programme gegeneinander antreten lassen. Durch den Wettbewerb lernt der Computerfreak massenhaft spannende Leute kennen. Drei Jahre später gehört er zu den Gründern des Deutschen Jungforschernetzwerks, einem Alumniverein für „Jugend forscht“-Gewinner. Für dessen Mitglieder entwickelt er eine interne Website, auf der die Mitglieder Profile anlegen, Interessen angeben, Fotos hochladen können. Er hat damit sein erstes Social Network programmiert. Über den Alumniverein treffen sich die StudiVZ-Gründer zum ersten Mal. Dariani, der 1995 mit einem Warnsystem für Gleisarbeiter bei „Jugend forscht“ teilnimmt, taucht bei einer der Veranstaltungen auf. Sie verlieren sich zwar aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn.
Bemmann studiert Informatik und Islamwissenschaften in Berlin, Dariani beginnt ein Studium der theoretischen Physik in Göttingen und macht den Bachelor an der Business School in St. Gallen. Nach dem Bachelor-Abschluss hat Dariani 20.000 Euro Schulden. Im Frühjahr 2005 entscheidet er sich für ein Praktikum bei Spreadshirt, einem Startup in Leipzig. Hier können Nutzer T-Shirts bedrucken und selbst verkaufen. Nach ein paar Wochen in Leipzig darf Dariani zur US-Tochter Spreadshirt nach Pittsburgh. Dariani macht Marketing und durchleuchtet nebenbei den US-Markt nach Geschäftsideen, die es in Deutschland noch nicht gibt. Er entdeckt ein soziales Netzwerk für Studenten: Facebook. Die Seite von Gründer Mark Zuckerberg ist noch nicht einmal anderthalb Jahre alt, aber schon jetzt haben 85 Prozent aller US-College-Studenten einen Account, zwei Drittel davon loggen sich täglich ein.
Er will es unbedingt nach Deutschland holen. Doch dafür braucht er jedoch einen Technikfreak, denn er selbst beherrscht nicht mal richtig Microsoft Excel. Also schreibt er eine Mail an Dennis Bemmann: „Lass uns das in Deutschland probieren!“ Das Timing ist perfekt, denn Bemman steht kurz vor dem Studienabschluss und hat für danach noch keine Pläne. Noch im Sommer 2005 beginnen sie in Berlin mit der Arbeit an der Seite. Gewerkelt wird im WG-Zimmer oder im Café. Am 30. Oktober 2005 meldet Ehssan Dariani das Unternehmen aus einem Berliner Internetcafé an – aus Kostengründen lässt er es von einer Agentur in Großbritannien eintragen. Zum Start hält er 45,9 Prozent der Anteile, Bemmann 44,1 Prozent, die restlichen 10 Prozent Spreadshirt-Chef Lukasz Gadowski. Ihn und seinen Mitgründer Matthias Spieß konnten die StudiVZ-Erfinder überzeugen, 10.000 Euro Startkapital zu geben. Später wird StudiVZ vor allem von den Gebrüdern Samwer finanziert – bekannt für die Klingeltonfirma Jamba. Ein Launch-Datum gibt es für StudiVZ nicht. Es werden Alpha- und Beta-Versionen entwickelt, die von Freunden getestet und immer wieder verworfen werden. Alle zwei, drei Tage macht Bemmann das System wieder platt. Erst die Version vom 2. November 2005 hat Bestand. Von diesem Datum stammt auch das erste StudiVZ-Profil, es ist Bemmanns. Als Lieblingsspruch gibt er ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry an: „Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.“
Noch ist die Seite passwortgeschützt. Am 11. November wird der Schutz entfernt – StudiVZ ist online. StudiVZ muss zunächst die Durststrecke überbrücken, an der die meisten scheitern. Denn wer sich zu Anfang anmeldet, der findet sich in einer einsamen Wüste wieder. Es gibt kaum Mitglieder. Doch wie gewinnt man ohne teure Marketingkampagne aktive Nutzer, die andere begeistern und so die Sache von selbst wachsen lassen? Die Gründer gehen selbst in die Bütt; besonders der extrovertierte Vielredner Ehssan redet unermüdlich auf die Leute ein.
Von ihm stammt laut eigener Aussage auch die Wortschöpfung „Gruscheln“. Sie ist genial, denn sie sorgt dafür, dass viele inaktive Nutzer zurück auf die Plattform kommen – und Bekannte entdecken. Wer eine E-Mail bekommt mit dem Inhalt „Du wurdest gegruschelt“, der meldet sich wieder an, schickt dem „Gruschler“ eine Nachricht und so beginnen viele Konversationen. Dariani: „Bis März 2006 habe ich jeden einzelnen Nutzer privat angeschrieben. Bei wem die Handynummer im Profil stand, der bekam von mir einen Anruf.“
Es funktioniert. StudiVZ wächst. Ende März 2006 hat das Netzwerk bereits 5.000 Nutzer. Zur Unterstützung der Entwicklungsarbeit werden Praktikanten angeheuert. Sie sitzen zu dritt mit Laptops auf der Bettkannte, telefonieren im Hausflur, bis sich die Nachbarn beschweren. Jetzt wird klar, dass man seine Hausaufgaben machen muss: größere Räumlichkeiten und einen Kaufmann im Führungsteam. Der Banker Michael Brehm steigt als dritter Geschäftsführer ein. StudiVZ wird professionell, knackt Ende 2006 die Millionenmarke und eröffnet Ableger in Polen, Frankreich und Italien. In der Spitze erreicht das Netzwerk die unglaubliche Zahl von 16 Millionen Mitgliedern.
Längst verhandeln die Gründer und Gesellschafter in Hinterzimmern über eine Mehrheitsübernahme. Der Holtzbrinck-Verlag („Die Zeit“, „Handelsblatt“) bekommt für 85 Millionen Euro den Zuschlag (auch Springer und Facebook hatten geboten). Die beiden Gründer werden zu Multimillionären. Dennis Bemmann bleibt bis Ende 2008 Geschäftsführer, anschließend macht er eine Weltreise und gründet als CTO die Finanzierungsplattform Bergfürst mit. Ehssan Dariani muss schon im März 2007 auf Betreiben des neuen Besitzers die Geschäftsführung verlassen. „Holtzbrinck“ erweitert StudiVZ durch die Plattformen meinVZ und SchülerVZ und erreicht (Quelle: Frankfurter Allgemeine) im Juni 2010 rund 17 Millionen Nutzer.
Dann beginnt der Abstieg. Facebook überholt StudiVZ bei den Nutzerzahlen in Deutschland erstmals im April 2011. Während 27 Prozent der deutschen Internetnutzer bei einem VZ-Netzwerk angemeldet waren, sind es bei Facebook etwa 47 Prozent. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht im Sommer 2011 bereits das Ende der VZ-Netzwerke kommen und schreibt, die VZ-Unternehmen seien abgetaucht. Im Februar 2012 berichtet die Süddeutsche Zeitung, dass die VZ-Netzwerke einen Rückgang der Seitenaufrufe um 80 Prozent verzeichnen. Dies erklärt sich durch die geringe Aktivität der Mitglieder. Lediglich 5,9 Millionen der 16 Millionen Mitglieder waren zum Beispiel im Oktober 2011 noch aktiv. Die durchschnittliche monatliche Besuchsdauer der Nutzer sinkt in den Folgemonaten kontinuierlich, während sie beim Konkurrenten Facebook im gleichen Zeitraum kontinuierlich steigt. Der große Umzug nimmt Fahrt auf – und zwar von StudiVZ zu Facebook. Es ist eine virtuelle Völkerwanderung mit guten Gründen. Facebook bietet mehr Bekannte, mehr Internationalität, mehr Möglichkeiten und vor allem – ein einfacheres Handling. Auch für Werbetreibende ist Facebook die lukrativere Plattform, geben doch hier User unreflektiert Opt-In für die Werbeanwendungen und erlauben den Marketingstrategen bei der Konzeption für ihre Social Media-Anwendungen Dinge zu tun, die bei den VZ-Netzwerken wohl niemals möglich wären.
Im Sommer 2012 sind in den VZ-Netzwerken nur noch 2,8 Millionen Deutsche aktiv. Im April 2013 wird SchülerVZ geschlossen. Im November 2015 veröffentlicht meedia.de die Top 20 der sozialen Netzwerke in Deutschland. meinVZ landet darin gerade noch auf Platz 20 – mit nur noch 1,15 Millionen Visits (1,62 Millionen weniger als noch zwölf Monate zuvor). Für StudiVZ reichen die Besucherzahlen gar nicht mehr für das Ranking.
Früher Place-to-be, ist die Community und ihre Ableger heute nur noch ein Massengrab für verwaiste Profile.
Autor: juj