
65. Ausgabe, 2. Quartal 2017
Das große Essen auf der Straße
Weltweite Streetfood-Bewegung ändert nachhaltig unsere Essgewohnheiten
Liebe geht durch den Magen, sagten unsere Großmütter und eroberten sich kochend die Herzen. Kalter Kaffee. Unsere Esskultur verändert sich. Vor unseren Augen und dort, wo alle Revolutionen ihren Anfang nahmen – auf der Straße. Je jünger die Mütter, desto seltener kochen sie noch. Die Fastfood-Generation aber ist wählerisch geworden. Pizza, Pasta, Döner und Bratwurst gelten als langweilige Sattmacher. Heute isst man zusammen, erlebt Besonderes und speist qualitativ hochwertige „Bürgersteig-Delikatessen“. Ohne weiße Tischdecken und steifem Oberkellner. Das ist nicht nobel, aber in. Streetfood ist ein Megatrend. Kündigt sich ein „Fress“-Festival wo auch immer an, ist ein Menschenauflauf zu erwarten. Aber warum ist das so? Ein Streiflicht mit dem Versuch der Spurensuche.

Big Food, wie wir es hier im Osten vor 27 Jahren kennengelernt haben, scheint am Ende. Scharenweise kommt den Fastfood-Restaurants das Publikum abhanden. Die Menschen finden keinen Geschmack mehr am ewig Gleichen. Sie wollen die Kontrolle über ihr Essen zurück. Weg vom Einerlei aus Kühlbox und Frittenkiste, hin zum Original, zum Nachhaltigen, zum Umweltverträglichen, zum Authentischen. In den USA verlagerten sich 2014 erstmals vier Milliarden US-Dollar Umsatzverluste bei Packaged-Food in die Segmente „frisch und bio“. Auch in Deutschland legt der Bio-Umsatz atemberaubend zu. 2015 lag er bereits bei 8,62 Milliarden Euro – rund 11 Prozent mehr zum Vorjahr. Es ist hip, gesund zu essen. Gern auch auf der Straße. Um sich greifende Allergien, Hauterkrankungen und Krebs in Magen oder Darm machen die Menschen sensibler für das, was ihnen Lebensmittel- und Landwirtschaftsindustrie schön verpackt vorsetzt.
Das neue Bewusstsein für das, was man isst, zementiert sich im Streetfood. Das heißt zwar eigentlich nur „Essen von der Straße“, was freilich nicht sonderlich appetitlich klingt, doch die junge Szene der Foodtrucker zelebriert ihr junges Geschäft als politische Botschaft, die die Gastronomie neu definiert. Vegetarische Aktivisten, Slow-Food-Idealisten, kochverrückte Traditionsbewahrer und weltgereiste Rucksack-Abenteurer stehen in ihren coolen Trucks. Tätowiert, stoppelbärtig und gut gelaunt, kreativ in der Zubereitung und penibel bei der Herkunft ihrer Rohstoffe und Zutaten. Nach quälend langen Jahren mit charakterloser Pampe aus schlechten Schulkantinen und der Verfettung großer Teile der Bevölkerung sehen manche im Streetfood sogar das Potential einer Revolution unserer Essgewohnheiten. Eike Wenzel vom Institut für Trend- und Zukunftsforschung glaubt, dass Streetfood längst zur globalen Bewegung geworden ist: „Es ist unbestreitbar: Essen ist Pop und eine Art Gegenbewegung zur überregionalen Einheits-Fastfood-Schiene.“

Die Explosion des Streetfood-Trends aber erklärt das nicht alleine. Wie immer hat ein weltumspannender Hype viele Gründe. Der wichtigste: Wir Menschen lieben Essen. Essen ist ein Ausdruck von Kultur und Streetfood ist ein Ausdruck einer jungen, weltoffenen Anschauung, die gerne experimentiert, die sich ausprobiert, die Neues wagen will, um sich vom Alten zu lösen. Zweifellos: Bisher machte Kochen nur müde und Essen nur satt. Das ist heute anders. Essen holt Menschen auf die Marktplätze und Straßen, die gemeinsam beim Kauen und dem Erkunden neuer Food-Kreationen und -Kombinationen ins Gespräch kommen.
Übers Essen zu reden ist wie übers Wetter - mit vollem Mund streitet man nicht. Eher nickt man sich vor Begeisterung über die gemeinsam erlebte Geschmacksexplosion glückselig zu. Die ganze Welt des guten Geschmacks auf einer Festivalmeile: Die mobilen Köche bereiten asiatische und lateinamerikanische Gerichte zu, sie kreieren süße Snacks, grillen Insekten, frittieren Eis, mischen regionale Spezialitäten und internationale Kochkunst zu Exklusivfood. Im Streetfood steckt mehr als leckere Zutaten. Wenn der tätowierte Bartträger oder der sesshaft gewordene Weltenwanderer Pulled Beef und einen mit Liebe gebauten Handmade-Burger aus dem Fenster ihrer oft selbstgebauten Food Trucks reichen, dann geben sie auch ein Lebensgefühl weiter. Nämlich das, was sie auf ihren Reisen in die entlegensten Ecken der Welt gelernt, genossen und mitgebracht haben. Auf diese Art bekommt auch der Streetfood-Gänger nicht nur exotische Köstlichkeiten auf die Hand gereicht, sondern eben auch eine Prise Freiheit, Verschlagenheit und Unabhängigkeit. Ein für viele ersehnter, aber meist nicht realisierbarer Lebensentwurf.

Die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler bestätigt in ihrem „Food Report 2016“ den anhaltenden Trend, außer Haus zu essen. Dabei hat sie zwei Phänomene beobachtet. Fastfood wird zum Fast Good: Essen unterwegs soll nicht mehr nur schnell verfügbar sein, sondern vor allem durch Qualität überzeugen. Und zweitens: Essen rund um die Uhr beim Shopping oder Museumsbesuch, vor und nach Kultur-Events wird zur Normalität. Man isst immer häufiger an Orten, die bisher für andere Zwecke gedacht waren: Markthallen oder Industriedenkmäler. Florian Niedermeier, Pionier der Szene und Mitbegründer des „Streetfood Thursday“ in Berlin-Kreuzberg, bestätigt die Beobachtung:
„Wer zu uns in die Markthalle Neun kommt, möchte nicht nur satt werden. Es geht vor allem darum, ein Stück Esskultur mitzubekommen. Dazu gehört, die Menschen hinter den Speisen kennenzulernen und sich über das Essen zu unterhalten.“

Auch so wird Essen zum politischen Statement. Man demonstriert Weltoffenheit durch Essen, zelebriert es als einen kulturellen Akt mit einer Botschaft: Nachhaltigkeit, bewusster Konsum, Rückgriff auf alte Formate. Das haben wir schon bei der Schallplatte erlebt, bei der Kreidetafel oder der Jutetasche oder im allgegenwärtigen Vintage-Trend. All das scheinen Morsezeichen einer Generation, der man den Mund vollgestopft hat mit Fastfood, mit Massenkonsum und mit all der Verschwendung, die unsere Erde an den Abgrund treibt. Es ist mehr als Essen: Wer einen Streetfood-Markt besucht, nimmt neben dem vollen Magen im Unterbewusstsein ein ungewohnt gutes Gefühl mit nach Hause: Ich teile ein Stück dieser Lebenseinstellung und ich zeige all den Burger-, Chicken- und Pizza-Ketten, das ich auch ohne sie satt werde. Und zwar viel gesünder oder nachhaltiger oder beides zusammen. Eike Wenzel: „Wie viel Realität in diesem demonstrativen Konsumakt steckt, kann man für fraglich halten. Fakt ist: Es ist erfreulich, wenn so viele Menschen über eine eigentlich so ordinäre Aktivität wie das Essen zusammenkommen und dabei eine weltschonende Ideologie berühren.“ Er ist sich andererseits aber sicher, dass wir neben dem Streetfood als Auslöser eines Umdenkens für eine Welt, die alle satt macht, einen Mentalitätswandel brauchen:
„Wir müssen lernen und schmecken, dass Proteine von Insekten nahrhaft und lecker sein können. Wir können uns mittlerweile auf Fleisch freuen, dass lecker aus Pflanzenfasern hergestellt wird. Um mit dem Mentalitätswandel zu beginnen, gibt es in unserer Kultur zum Glück eine erste Lösung: gutes Marketing.“
Denn eine Generation, die nicht nach Alternativen für den Fleischkonsum sucht, lasse eine wichtige Frage der Menschheitsentwicklung offen. Im Grunde geht es, so Eike Wenzel, genau darum. Mag sein, dass Streetfood dafür ein paar Nummern zu klein ist. Aber es ist ein Anfang, um darüber nachzudenken. Eine weltweite Bewegung von unten. Als Auslöser für gutes Essen, das allen schmecken sollte: dem Verbraucher, dem Erzeuger und der Umwelt.
Guten Appetit.

Autor: juj