2. Ausgabe 2022 | Nr. 85

Odyssee: Die Geschichte der Videospiele

Über Knöpfe, die die Welt bedeuten

Haben Sie gedacht, Videospiele wären ein Zeitvertreib? Videospiele sind ein Topos. Sie sind Hochkultur, Feuilleton, Wirtschaft, Skandal, Film, Franchise, Indie, Story, Let’s play, Beta-Phase, Frust, Abschlussarbeit, Mobile-Abzocke – und vielleicht ein bisschen Zeitvertreib. Die Chronik eines transzendierenden Mediums.

Die folgende Chronik erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Nur auf Unterhaltsamkeit.

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Ein minutiöser Abriss der Videospiele wäre mittlerweile eine Lebensaufgabe. Deswegen wählen wir für dieses Mal den Easy Mode und arbeiten uns durch die wichtigsten Etappen dieses faszinierenden Mediums.

Level 01: Tutorial

Anfang der 1940er enthüllt die Firma Westinghouse Electric Corporation auf der Weltausstellung in New York einen mechanischen Apparat – den Nimatron. Mit ihm konnten Benutzer das Spiel Nim spielen, ein Spiel, das zu großen Teilen auf Mathematik basiert.

1947 – genau am 25. Januar – meldet der Physiker und TV-Pionier Thomas T. Goldsmith Jr. das Cathode-ray tube amusement device, das er zusammen mit seinem Kollegen Estle Ray Mann entwickelt hat,  beim US-Patentamt an. Optisch erinnert das Spiel an einen Radar, und der Spieler soll  soll der Spieler eine Rakete in den ‚Bildschirm‘-Mittelpunkt befördern. Wie der Name es vermuten lässt, nutzt der Spieler eine Kathodenstrahlröhre (CRT).

1951 stellt der 29-jährige Ingenieur Ralph Baer seinem Chef ein Konzept vor, das die Röhrenfernseher, die dessen Firma produziert, mit Spielen verbindet. Es wird abgelehnt.

1952 stellt Alexander Shafto „Sandy“ Douglas ein eigenes CRT-basiertes System vor, welches er im Rahmen seiner Abschlussarbeit entwickelt hat: OXO. Das System nutzt eine Kathodenstrahlröhre (CRT), man spielt damit das Kinderspiel XXO – auch bekannt als Tic Tac Toe.

1958 präsentiert Willy Higginbotham – Sie haben es sich gedacht: ein Physiker – das Spiel Tennis for Two. Als Bildschirm dient ein angepasster Oszillograf, die Basis ist ein analoger Computer, die Anlage ist mehr als fünf Meter breit.

Die Grundsteine für das Medium Videospiel sind gelegt.

Level 02: Spacewar!

1962 erscheint mit Spacewar! das, was später gemeinhin als erstes kommerzielles Videospiel gelten wird. Entwickler Steve ‚Slug‘ Russell nutzt als Grundlage den Minicomputer PDP-1. Das Spiel ist pure Science-Fiction. Zwei Piktogramm-eske Raumschiffe schießen aufeinander. Der Spieler versucht auszuweichen und selbst Treffer zu landen. Das Spiel wird Geschichte schreiben. Als Einflüsse nennt Russell unter anderem japanisches Effektkino a là Godzilla.

Selbstverständlich folgen über die nächsten Jahrzehnte hinweg zig Spacewar!-Klone.

Level 03: Odyssey

1966 greift Ralph Baer (siehe 1951) die Idee wieder auf: Computerspiele auf dem TV-Gerät. Er stellt sein System, die Brown Box, verschiedenen Firmen vor. Ganze fünf Jahre lang. Der amerikanische Elektronikhersteller Magnavox riecht eine Chance, schlägt zu und entfesselt damit anno
1972 – das Zeitalter der Videospiele. Die Magnavox Odyssey ist die erste Heimvideokonsole. Sie wird direkt über das TV-Gerät angeschlossen und erscheint dann auf einem zugeordneten Kanal. Sieben Videospiele werden auf Game Cards mitgeliefert und jeweils direkt in die Konsole eingeschoben. Das Eingabegerät, der Controller, besteht aus einer Box mit einem Reset-Knopf und zwei seitlich angebrachten Rädern – horizontal und vertikal. Magnavox Odyssey stellt die Wohnzimmer auf dem Kopf. Pure Magie. Weiße Balken und ein weißer Punkt bewegen sich auf dem Bildschirm. Etwa bei dem mitgelieferten Spiel Table Tennis.

Letzteres gefällt dem wenig erfolgreichen Hersteller von Automaten für Videospielhallen Syzygy so gut, dass er beschließt das Konzept Tischtennis zum Gegenstand seiner neuen Arcade-Automaten zu machen. Dies ist die (Wieder)Geburtsstunde des bis in die Gegenwart bekannten Firmennamens Atari. „Wiedergeburt“, weil die Firma Syzygy an diesem Punkt im Prinzip pleite ist. Diese neue Automatenreihe ist der letzte Versuch einer Rettung. Atari bezeichnet eine Stellung im ostasiatischen Go-Spiel. Glücklicherweise hat die aktuelle Automatenreihe Erfolg. PONG wird ein Hit.

In einer Schlammschlacht erzwingt Odyssey-Hersteller Magnavox Lizenzgebühren, die Atari fortan für Pong zahlen muss. Ironisch. Denn von den zig Firmen, die anschließend unlizenzierte Pong-Klone bauen und weltweit in billig zusammengelöteten Elektroschrott-Plastik-Hybriden verkaufen, muss niemand Lizenzgebühren an Atari zahlen.

Level 04: Atari Shock

1983 bricht die Videospielindustrie (in den USA) zusammen. Die Marktsättigung frisst die Kaufkraft; schlechte Videospiele das Interesse der Käuferschaft. Heimcomputer sind ein Thema, Konsolen sind keines mehr. Die Verkäufe gehen um 97 Prozent zurück. Videospielhallen haben ebenfalls Probleme, wenngleich auch nicht so viele. Japan benennt dieses Phänomen rückblickend korrekt als Atari Shock, die USA etwas allgemeiner als Video Game Crash. Atari gehört zu diesem Zeitpunkt bereits dem TV Network Warner Communication. Die Geschäftsführung legt Wert auf Markennamen wie E.T. - The Extraterrestrial, aber leider keinen auf Qualität. Der Markt scheint außer Kontrolle, zeitweise sind zig Heimkonsolen gleichzeitig verfügbar, noch mehr halbgare Spiele dafür – der digitale Goldrausch implodiert.

Daraus gehen zwei Gewinner hervor. Zum einen Heimcomputersysteme wie der C64. Zum anderen der japanische Hersteller Nintendo. Dessen Geschäftsführer Hiroshi Yamauchi zeigt gegenüber der Konkurrenz wenig Mitleid:„Atari collapsed because they gave too much freedom to third-party developers and the market was swamped with rubbish games.“ Das Nintendo Entertainment System (NES) tritt seinen Siegeszug an.

Level 05: Nintendo

1996 erscheint das Nintendo 64 (N64) und hat als erste Spielekonsole einen 64-Bit-Prozessor. Es ist das Ebenbild der Videospiellandschaft. Drei Jahre vorher erschien mit Super Mario Bros. der erste kommerzielle Kinofilm, der auf einem Videospiel basiert – und an seiner Aufgabe scheitert, bzw. an allen Aufgaben scheitert.

Das N64 ist die dritterfolgreichste Konsole auf dem Markt, neben der Sony PlayStation und dem Sega Megadrive. Parallel dazu kontrolliert Nintendo den Markt der portablen Konsolen, mit den diversen Iterationen des Gameboys. Zu diesem Zeitpunkt geht es bereits um Markenbildung. Menschen kaufen Mario; Spieletitel müssen zu Reihen ausgebaut werden. Denn mit einer festen Markenbindung zieht man den Konsumenten auch auf die nächste Konsolengeneration. Auch: Es gibt jetzt Konsolengenerationen.

Videospiel ist Industrie geworden. Fachmagazine beschäftigen sich ausschließlich mit Games und meinen damit selbstverständlich Videospiele. Die elektronische Unterhaltungsindustrie ist Lebensalltag – und Lebensmittelpunkt.

Level 06: Mobile Gaming

2021 klettern die Erlöse, die Betreiber mit Mobile Gaming erzielen, auf 2,8 Milliarden Euro – in Deutschland. Jährlich verzeichnen die Anbieter einen Umsatzzuwachs im zweistelligen Bereich. Wofür? In-App-Käufe. Items, Boni, Glückspielsimulationen, Kartenpacks, Frisuren, Waffen, neue Charaktere – ab jetzt absolvieren Spieler ihre Dailys. Der Tag beginnt mit dem Smartphone auf dem Klo. Die Industrie melkt ihre Nutzer. Das Zauberwort ist Freemium, free premium – du darfst mein Spiel gratis spielen, aber dafür bekommst du Werbung angezeigt. Für andere Freemium-Titel.

Game over.

Autor: Robert Gryczke

Quellen: Wikipedia.de, „Geschichte der Videospiele“, abgerufen am 12.06.2022; Wikipedia.de, „Geschichte der Videospiele“, abgerufen am 12.06.2022; Pong-Story.com, abgerufen am 12.06.2022; HistoryofInformation.com, „The Cathode …“, abgerufen am 12.06.2022; RalphBaer.com, „Video Game History“, abgerufen am 13.06.2022; History.com, „Video Game History …“ vom 10.06.2019; AmericanHistory.com, „Magnavox …“, abgerufen am 13.06.2022; BugSplat.com, „What was the …“, abgerufen am 13.06.2022; Cyberport.de, „Hagenuk …“ vom 19.01.2022; Notebookcheck.de, „Games …“, vom 11.05.2022