63. Ausgabe, 4. Quartal 2016

Ein kleines Wunder gegen große Lasten

Oskar Barnack erfand 1913 die erste Kleinbildkamera der Welt

Wenn wir heute mit dem Handy Selfies im Sekundentakt auf Facebook oder Instagram posten, dann verdanken wir dies maßgeblich einem gewissen Oskar Barnack. Der Erfinder der Kleinbildkamera ist kaum bekannt – umso mehr allerdings sein „Wunderding“ – die „Leica“. Wir erzählen seine Geschichte, die mit einem schweren Asthma-Leiden beginnt.

Oskar Barnack
Oskar Barnack, *1879, †1936

Als Oskar Barnack (*1879 Lynow, †1936 Bad Nauheim) die Idee seines Lebens hatte, war er als Entwicklungschef der Firma Leitz in Wetzlar angestellt. Im Grunde wäre es also sein Job gewesen, kreativ zu sein. Doch sein Meisterstück lieferte der passionierte Hobbyfotograf 1913 nicht etwa ab, weil er dafür einen dienstlichen Auftrag hatte. Im Grunde entwickelte er die neue Kamera wie ein Hobbybastler aus purem Eigennutz. Schließlich war er wegen seines Asthmas nicht in der Lage, die großen und schweren Platten- und Großformatkameras seiner Zeit in den Wald zu tragen, wo er liebend gern seine Naturaufnahmen machte. Mehr als 5 Kilogramm musste man damals tragen, um zwölf Aufnahmen zu machen. Zuviel für einen wie Barnack, der schon nach der dritten Treppenstufe ins Japsen kam. Er kannte – ganz privat – nur ein Ziel: Eine kleine Fotokamera zu entwickeln, die man in der Tasche mitnehmen konnte. Rückblickend war es ein Glück, dass er die Kamera in seiner Freizeit entwickelte, war er doch dadurch völlig ungebunden an Vorgaben seines Vorgesetzten. Er selbst sagte dazu einmal: „Es war mehr private Liebhaberei. Indem ich so unbekümmert Althergebrachtes gehen ließ und fast nichts von dem verwandte, was bisher unbedingt zu einer guten Photo-Kamera notwendig war, so entstand dieser neuartige Kamera-Typ.“

Barnacks Idee war es, den 35-mm-Kodak-Rollfilm für seine Kleinbildkamera zu benutzen. Dazu verdoppelte er das Kino-Einzelbild-Format von 18x24 mmm auf 24x36 mm. Er hielt das Seitenverhältnis von 2:3 für zweckmäßig und schön, da es dem goldenen Schnitt nahe kommt. Nach dieser Festlegung konnte er sich der eigentlichen Konstruktion der Handkamera widmen.

Ernst Leitz jun. (genannt Ernst Leitz II) meldete sie am 12. Juni 1914 zum Patent an, nachdem er mit der Kamera im Frühjahr 1914 eine USA-Reise gemacht hatte und restlos begeistert zurückgekehrt war. Wegen des Ersten Weltkrieges verzögerte sich die weitere Entwicklung und auch die Patentanmeldung wurde zurückgewiesen, weil sie nach Ansicht des Kaiserlichen Patentamtes ein Zeiss-Patent und ein französisches Patent berührte. Mit dem beginnenden Krieg wurde die Firma Leitz in die Kriegsproduktion einbezogen, musste Feldstecher und Artillerie-Messfernrohre bauen. Der vom Wehrdienst befreite Barnack aber tüftelte weiter an seiner Kamera, Verbesserungen notierte er auf dutzende Zettel, stets mit Skizzen. Das Kriegsgeschehen an der Heimatfront hielt er mit vielen Fotos auf seiner Kamera fest - vom Hurra-Patriotismus der ersten Tage bis zum geschlagen heimkehrenden Soldaten am Schluss. Das war Bildreportage in neuer Form mit Hilfe der handlichen, schnellen Kamera. Nach dem Krieg aber waren für die Fabrikationsreife noch viele Hausaufgaben zu erledigen: Konstruktion eines Entfernungsmessers (da die Mattscheibe entfiel), eines in der Schlitzbreite verstellbaren Rouleau-Verschlusses, von Kassetten, die Tageslichtwechselung des Films möglich machen, eines verbesserten Suchers und vor allen Dingen eines neuen Objektivs bester Qualität, das die 10-fache lineare Vergrößerung der Bildchen ermöglicht.

1924 stand Ernst Leitz II vor der wichtigsten Entscheidung seines Lebens: Sollte er Barnacks Kamera tatsächlich zur Serienfertigung einführen? Im Juni 1924 fand die entscheidende Besprechung statt, die darüber Klarheit schaffen sollte. Die meisten in der Firma waren dagegen und man kamen zu keinem Resultat. Ernst Leitz: „Da sagte ich: Wir machen jetzt Schluss, ich entscheide hiermit, es wird riskiert.“ Leitz setzte große Mittel für die Realisierung der Erfindung von Oskar Barnack ein. Die Fachpresse verglich die Produktionsentscheidung mit einem „Ritt über den Bodensee“ bei trügerischem Eis.

© Kameraprojekt Graz 2015 / Wikimedia Commons/CC-BY-SA 4.0
Leica I, 1927, mit Objektiv Leitz Elmar 1:3,5 F=5cm: die von Oskar Barnack entwickelte erste 35-mm-Kleinbildkamera

Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1925 wurde die Kamera vorgestellt. Einige bezeichneten sie als Spielzeug, es gab Spott, Vorurteile und jede Menge abfällige Bemerkungen der Experten und Fachpresse. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass aus 24x36 mm großen Negativen vernünftige, brillante Vergrößerungen werden können. Doch die Kritiker verstummten schnell, wurde  doch die neue Kleinbildkamera zu einem Verkaufsschlager und zum Handwerkszeug des modernen Bildjournalismus, zum Ferrari der Fotografen.

Schon 1925 betrug der Umsatz mit der Leica 5 Prozent vom Gesamtumsatz der Firma, 1927 waren es 10 Prozent und 1933 atemberaubende 70 Prozent. Sie kostete 1928 je nach Ausstattung zwischen 220 und 290 Reichsmark. Das Durchschnitts-Einkommen aller Deutschen betrug zu dieser Zeit 165 Reichsmark pro Monat. Bis 1931 waren schon 70 000 Stück verkauft, Ende 1935 bereits 183 000. Spätestens jetzt war klar: Die Leica wird als ein einzigartiges fotografisches Werkzeug, eine echte technische Revolution in die Geschichte eingehen. Und das völlig zu Recht, eröffnete sie doch der Fotografie ganz neue Perspektiven.

Längst verlangen die Fotografen, Amateure und Profis immer mehr und bessere Möglichkeiten bei schlechten Lichtverhältnissen, bei schnell bewegten Objekten, bei Sportereignissen, für Nahaufnahmen und Sternbeobachtungen. Und die Leica gab es ihnen – sie eröffnete den Fotografen die flexible Bildfindung und das Einfangen von Momenten.

Dabei ging die Firma Leitz ganz neue und ungewohnte Vertriebsmethoden ein. Für Optik-Produkte gab es keinen Einzelhandel, weshalb Leica-Werber Baumann weltweit Lichtbildvorträge hielt, um den Fotohandel zu überzeugen. In England gelang ein ganz besonderer Coup. Man bat einen bekannten englischen Pressefotografen nach Wetzlar, schulte ihn mit der Leica und schickte ihn als „Lecturer“ zurück nach London. Auf Londoner Doppeldeckerbussen gab es Aufschriften wie: „How do you like a LEICA? See Wallace Heaton!“ Der war ein großer Fotohändler in London. Der Absatz in England stieg rapide.

Die Leica traf ein erwachendes Lebensgefühl der Menschen, nämlich ohne große Umstände das gerade ablaufende Ereignis im Bild festzuhalten. Und auch den Bildreportern und Zeitungsverlegern wurde immer klarer, dass die Fotogeschichte die Wortreportage in der Leser-Beliebtheit ablösen wird. Erst die Leica ermöglichte, dass man das Bild selbst als Nachricht verwenden konnte. Den Reportern liegt sie in der Hand wie die Brille auf der Nase.

Oskar Barnack selbst konnte seinen ersten Enkel noch mit seiner Wunder-Kamera fotografieren und feierte am 2. Januar 1936 sein 25-jähriges Betriebsjubiläum. Da war er bereits von einer Lungenentzündung schwer gezeichnet. Zwei Wochen danach hatte die Krankheit über ihn gesiegt. Er wurde nur 57 Jahre alt.

1950 wurde die 500.000ste Leica ausgeliefert. Die Kamera hat die Fotografie im 20. Jahrhundert wie keine andere beeinflusst.

Autor: juj