
59. Ausgabe, 4. Quartal 2015
Ein Taktiker erfand den Sozialstaat
Otto von Bismarck gilt als Wegbereiter der Sozialversicherung
Zahlreiche Erfindungen in den vergangenen Jahrhunderten haben die Welt verändert. In einer Serie erinnert der Server an Erfindungen, die das Leben der Menschen beeinflusst haben. In der 28. Folge erzählen wir die Geschichte von Otto von Bismarck (* 1. April 1815 in Schönhausen (Elbe); † 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Hamburg). Er initiierte die deutschen Sozialgesetze und gilt weltweit als Erfinder des modernen Sozialstaats.
Otto von Bismarck war schon früh ein gewiefter Taktiker. Er wusste genau, was er tun musste, um an sein Ziel zu gelangen. Hier eine nettes Wort, dort ein handfester Vorteil, hier ein Lob vor großem Publikum, dort ein Orden oder mehr Gehalt. Bismarck kannte die Menschen und wusste sie für seine Zwecke zu gewinnen. So muss man auch seine größte Lebensleistung einordnen – die Einführung von gesetzlicher Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung ab 1883. Damit soll nicht gesagt sein, dass Bismarck kein soziales Gewissen hatte; ganz im Gegenteil. Doch das Geschenk, das er Deutschland mit der Einführung der Sozialgesetze gemacht hat, beruht in erster Linie auf Taktik und Machterhalt. Das sagt er sogar selbst: „Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ (Quelle: Otto von Bismarck: Gesammelte Werke; Friedrichsruher Ausgabe, 1924/1935, Band 9, S.195/196).
Rückblick in Bismarcks Zeit: Es ist ein Jahrzehnt der Wirtschaftskrisen. Viele Unternehmen müssen dicht machen, ihre Beschäftigten finden sich auf der Straße wieder. Hunderttausenden wird klar: es liegt nicht nur an mangelndem Fleiß und Ehrgeiz, dass Menschen verarmen. Die Wut der Entlassenen entlädt sich auf den Straßen. Die Gewerkschaften organisieren Versammlungen mit hunderten aufgebrachten Teilnehmern, die kurz zuvor gegründete Sozialistische Arbeiterpartei erlebt einen gigantischen Zulauf. Es reicht ein Funke, um aus dem sozialen Frieden einen Bürgerkrieg zu machen. Das spüren auch die Reichen. Ihr Glaube an die freie Marktwirtschaft bröckelt. Für die Regierenden mit Reichskanzler Otto von Bismarck an der Spitze, wird die Lage von Tag zu Tag gefährlicher. Der Taktiker weiß, dass er die Arbeiter um jeden Preis an den Staat binden muss. Etwa so, wie es schon lange mit den Beamten und Soldaten funktioniert.
Seine Idee: drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens die sozialen Unruhen und dem Sozialismus die Stirn bieten, zweitens den bestehenden freiwilligen Sozialversicherungen von Gewerkschaften und kirchlichen Arbeiterverbände die wirtschaftliche Grundlage entziehen und drittens die Arbeiter an den Staat binden.

Die Sozialgesetzgebung also war nicht mehr und nicht weniger Bismarcks Mittel zum Zweck. Historisch belegt ist aber auch: Ohne Bismarck hätte es die neuen Gesetze nicht gegeben – auch wenn sie am Ende anders aussahen, als er es wollte. Schon 1880 begannen die Planungen. Mit des Kaisers Botschaft bekamen sie die nötige Schlagkraft.
Im November 1881 ließ Bismarck im Reichstag seine Bombe platzen, als er von Wilhelm I. verlesen ließ: „den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.“ In Deutschland sollte kein Arbeiter mehr auf die Wohltätigkeit von Familie und Kirchen angewiesen sein – sondern einen Rechtsanspruch haben auf Versorgung. Vor dem Absturz in die Armut sollte jeder bewahrt werden, der wegen Krankheit, Unfall oder Alter nicht mehr arbeiten kann. 1883 wurde das Gesetz über die Krankenversicherung verabschiedet. Es war dasjenige in der Reihe der Sozialreformen, das am wenigsten Widerstand im Reichstag hervorrief: Die Krankenkassen wurden dezentral organisiert, von Arbeitgebern (ein Drittel) und Arbeitnehmern (zwei Drittel) durch Beiträge finanziert, kosteten den Staat also nichts. Befürchtungen der Konservativen, die Reformen würden zu einem „Staatssozialismus“ führen, ließen sich so besser entkräften als im Fall der Rentenversicherung. Die war auf Zuschüsse aus dem Reichshaushalt angewiesen und trat erst 1889 in Kraft – ein Jahr, bevor Bismarck aus dem Amt gejagt wurde.
Für Bismarck selbst war es am Ende allerdings keine Erfolgsgeschichte, Er verlor gegen Ende seiner Amtszeit das Interesse an den Sozialgesetzen und sein ursprüngliches Ziel, die Arbeiter einzubinden, verfehlte er. Der Streit mit den Sozialisten wurde schärfer und führte am Ende zu seiner Ablösung.
Geblieben aber ist die historische Leistung, die seitdem weltweit hohe Anerkennung genießt. Kaum noch vorstellbar, welchen gigantischen Umbruch 1883 die Einführung der Krankenkasse für Industrie- wie Landarbeiter darstellte: Sie waren von nun an verpflichtend krankenversichert. 1885 waren es 4,3 Millionen Menschen in Deutschland, damals 9,2 Prozent der Bevölkerung, am Ende des Ersten Weltkriegs lag die Zahl der Versicherten bei 15,6 Millionen, was fast einem Viertel der Bevölkerung entsprach. Das Angebot wurde gut angenommen: Die Leistungen stiegen von durchschnittlich elf Mark pro Mitglied im Jahr 1885 auf 28,5 Mark im Jahr 1913. Ein Krankheitsfall dauerte 1885 im Durchschnitt zwei Wochen, 1913 waren es schon 20 Tage – nicht unbedingt, weil die Menschen kränker wurden, sondern weil die Medizin bessere Heilmethoden entwickelte. Außerdem wurde der Druck, sich krank an den Arbeitsplatz zu schleppen, geringer. Mit dem Krankengeld konnte man den Lohnausfall schließlich halbwegs überbrücken.
Autor: Jens-Uwe Jahns