79. Ausgabe, 4. Quartal 2020

Mit Comenius begann die Kreidezeit der Schulentwicklung

So traditionell die Schule seit 350 Jahren ist, so rasant ist die jüngste Entwicklung der Schultechnik

Johann Amos Comenius (1592-1670) gilt als Erfinder der Schule. Seine Forderung von 1657, „Alle alles ganz zu lehren“, gilt als der Beginn der modernen Schule. Der Server erinnert nicht nur an den großen europäischen Gelehrten, sondern zugleich auch an die Entwicklung des wichtigsten Schulutensils – der Schiefertafel – bis zum heute gebräuchlichen Whiteboard.

Bildung ist Jahrtausende der Luxus einer verschwindend kleinen Minderheit gewesen. Erst ab dem 5. Jahrhundert etabliert sich die Kirche als Bildungsträger. Schließlich ist es der Klerus, der das Wissen aus der Antike in großen Bibliotheken konserviert und es über ganz Europa verbreitet. Dabei haben die mittelalterlichen Klosterschulen nur einen einzigen Zweck: neue Mönche und Nonnen heranzubilden. Um dies zu finanzieren, werden auch einige wenige Laienkinder, meist junge Adelige, ausgebildet. Während der Unterricht ausschließlich in lateinischer Sprache gehalten wird, liegt der inhaltliche Fokus auf den sogenannten sieben freien Künsten: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie. Erst Karl der Große erkennt das Potential guter Bildung und gründet erste Hofakademien sowie Hof- und Stiftschulen. Er versucht sich sogar an der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht.

Um das Jahr 1250 breiten sich erstmals städtische Schulen aus. Dort lehren aber nicht mehr nur Mönche, sondern auch weltliche Lehrer. Statt Latein wird hier in Deutsch unterrichtet. Doch im Unterricht geht es grausam und brutal zu, vor allem in sogenannten Winkelschulen, in denen sich gering gebildete Lehrer und Kleriker als Lehrer betätigten dürfen. Hiebe, Schläge und andere körperliche Züchtigungen sind an der Tagesordnung. Im 17. Jahrhundert gibt es eine erste Bildungsrevolution, als sich ein neues Bildungsideal durchsetzt. Fortan steht mehr und mehr das Denken des Menschen mit den Naturwissenschaften an höchster Stelle. Aus dieser Zeit stammt der berühmt gewordene Satz „omnes omnia omnino excoli“ (Alle alles ganz zu lehren) von Johann Comenius. Er führt ein vierstufiges Schulsystem und die große Unterrichtslehre ein, die allen Kindern Zugang zur Bildung ermöglichen soll. Zweifellos darf Comenius als der große Pädagoge des 17. Jahrhunderts betrachtet werden. Er gibt der Pädagogik eine neue Richtung: Er ist der Erste, der die Pädagogik vom Kind her entwirft. Er sieht die Kindheit als Vorbereitung auf das Erwachsenenleben. Er richtet die Pädagogik methodisch, didaktisch und inhaltlich nach den unterschiedlichen Kindheitsphasen aus. Bis heute prägen seine Ideen die gegenwärtige Allgemeinbildung. Er will Bildung für alle, Chancengleichheit für Mädchen, sozial Schwache und geistig Zurückgebliebene. Er will eine Erziehung zum Gebrauch der eigenen Vernunft, ohne jede Gewalt – stets mit dem Ziel, die Menschen zur Menschlichkeit zu erziehen.

10 Pf-Sondermarke der DDR-Post (1958) zum 300. Jahrestag der Herausgabe der didaktischen Schriften von Amos Comenius „Opera didactica omnia“

Comenius lehnt Zwang in jeder Hinsicht ab. Einzig Bildung, so glaubt er, führe die heranwachsende Generation auf den Weg zur Weisheit. Seine ehernen Lernprinzipien scheinen in Stein gemeißelt: Lernen durch Tun, Anschauung vor sprachlicher Vermittlung, Muttersprache vor Fremdsprache und Vorbild vor Worten. Er träumt von der Schulpflicht für alle Stände und beide Geschlechter mit  einheitlicher Schulbildung bis zum 12. Lebensjahr. Erst danach sollten die praktisch Begabten eine Lehre, die anderen eine weitere Schulbildung auf der Lateinschule, später an der Universität, absolvieren. Zu Beginn des 19. Jahrhundert entwickelt sich daraus das moderne Schulsystem. Elementarschule, Vorläufer der Grundschule, und Gymnasien werden gegründet. 1837 gibt es erstmals verpflichtende Lehrpläne für alle. Die zunehmend verstaatlichten Schulen ermöglichen die Durchsetzung der Schulpflicht: 1816 gehen 46 Prozent der Schulpflichtigen zur Schule, 1846 bereits 60 Prozent. Das Reichsgrundschulgesetz von 1920  beendet den Unterschied zwischen einer Schule der Armen und einer der Reichen.

Kreide macht Wissen anschaulich

Ebenso wie sich das Schulwesen entwickelt,  nimmt auch die „technische“ Ausstattung der Schulen eine spannende Entwicklung. Beispiel Wandtafeln. Erste Belege für eine Verwendung lassen sich 1658 finden – und zwar im illustrierten Schulbuch Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt in Bildern) von Johann Amos Comenius. In einigen Ausgaben dieses Werks ist die Illustration eines Klassenzimmers mit einer beschriebenen Wandtafel zu finden. Historiker gehen deshalb davon aus, dass Schultafeln, die mit Kreide beschriftet werden konnten, bereits in dieser Zeit verbreitet waren.

James Pillans (1778-1864), seinerzeit Schulleiter an der Royal High School Edinburgh, soll die farbige Schulkreide erfunden haben. Auch rund 350 Jahre später sind Wandtafel und Kreide das Visualisierungswerkzeug Nummer eins im Klassenzimmer. Doch der Klassiker wird immer wieder durch modernere Gerätschaften ergänzt. Wer erinnert sich noch an den Diaprojektor zur Darstellung von Fotografien, der ab den 1960er Jahren verwendet wird? Die transparenten Abbildungen in der Größe 24×36 Millimeter können per Lichtquelle angestrahlt und auf eine helle Projektionsfläche gebracht werden. Sie ermöglichen erstmals die bildliche Darstellung von  speziellen Pflanzen oder architektonischen Bauten. Der Overheadprojektor verdrängt in den 70er Jahren das „Dia-Ding“. Sie bieten Lehrern die Möglichkeit, Lerninhalte schon vor der Unterrichtsstunde aufzubereiten und zu einem späteren Zeitpunkt schnell und problemlos zu präsentieren. Als Medium wird eine transparente Folie verwendet, die von einer Lichtquelle beleuchtet und der Inhalt mittels Linsen und Umlenkspiegel auf die Projektionsfläche abstrahlt. In den neuen Bundesländern nennt man diese Geräte Polylux.
Die nächste Entwicklungsstufe stellen OHP-Projektoren dar. Verbunden mit Computer, Video- oder DVD-Player sowie Fernseher ermöglichen sie Videoprojektoren. Die umgangssprachlich auch Beamer genannten Geräte vergrößern und projizieren Bilder auf eine Leinwand. Ab 1990 halten Whiteboards bzw. Weißwandtafeln Einzug in die Klassenzimmer. Mit ihnen wird die Kreide durch spezielle Filzstifte ersetzt, den sogenannten Board-Markern. Entscheidender Vorteil: Beim Säubern der Tafel fällt kein Staub mehr an. Die interaktive Whiteboard-Tafel ist der vorerst letzte Meilenstein moderner Schultechnik. Die digitale Tafel ist mit einem Computer verbunden und projiziert den Bildschirminhalt auf die weiße Fläche des Whiteboards. Dabei können die Inhalte per Hand oder mit speziellen Stiften durch eigene Aufschriften ergänzt werden.  Die Technik erlaubt es, auch Audio- und Videodateien abzuspielen, selbst der Zugriff auf das Internet ist möglich.

Und was kommt danach?

Angesichts der rasanten Digitalisierung unseres Alltags wird sich Schule verändern müssen. Die Aristoteles-App, mit der Kinder schon heute gemeinsam mit ihren Freunden lernen können, ist nur ein Anfang. Das Homeschooling des ersten Lockdowns hat uns vor Augen geführt, welche Vor- aber auch welche Nachteile digitales Lernen hat. Es scheint eine Frage der Zeit, wann Schulhefte aus Papier, Füllfederhalter, Tintenkiller und Kugelschreiber Geschichte sind. Angepasste Tablets werden zum Buch- und Heftersatz. Die Smartboards von morgen gewinnen mit stabilen Breitbandanbindungen und starken WLAN-Netzen in den Schulen an Bedeutung. Und wird nicht NRW bald das erste Bundesland sein (müssen), das mit KI-Robotergehilfen dem Lehrermangel begegnet?   

Hingegen dürfte die volldigitale Zukunft in der Schule scheitern, denn Lehrexperten glauben, dass selbst das beste Computerprogramm und der sympathischste Roboterlehrer soziale Fähigkeiten niemals vermitteln können. Es wird also immer einen Ort geben, an den berufstätige Erwachsene ihre Kinder schicken, um Kontakte zu knüpfen und fürs Leben zu lernen. Schulen dürfte es noch lange weiter geben, doch sie werden unsere Kinder nicht mehr so formalisiert und starr nach Plan lehren, wie sie es heute tun. Es gibt Veränderungen, die können nicht früh genug kommen.

Autor: juj