66. Ausgabe, 3. Quartal 2017

Der Spieltrieb des Menschen – und seine Geschichte

Vom Kreiselspiel bis zum Fidget Spinner – wie sich die Spiele gleichen

In der Bibel steht geschrieben: „Gott schuf die Wale, dass sie im Meere spielen!“ Nicht nur in Walen, auch im Menschen steckt der Spieltrieb. Wahrscheinlich haben sich schon die ersten Menschen spielend die Zeit vertrieben. Oder mit ihnen die geistigen Fähigkeiten ausgetestet. Bis heute ist die Kreativität bei der Entwicklung immer gleicher Spielideen erstaunlich. Ebenso erstaunlich, wie sich die Zyklen neuer Spieltrends verkürzen. Vorgestern noch Schach, Gummitwist oder Hippeding, gestern Zauberwürfel und Super-Mario, heute Pokémon und Fidget Spinner. Warum spielt der Mensch? Und warum verliert er immer schneller die Lust daran? Eine spielerische Betrachtung. 

Spielen ist die wohl älteste Kulturtechnik des Menschen. Lange bevor der homo sapiens sprechen, lesen und schreiben konnte, entwickelte er sich zum homo ludens, zum spielenden Menschen. Allerdings ist der Mensch mit seiner Neigung zum Spiel nicht allein auf der Welt. Er teilt sie mit vielen Lebewesen, vor allem mit Säugetieren. Doch das Spiel an sich ist ein flüchtiges Phänomen, was den wissenschaftlichen Beweis für das erste Spiel des Menschen schwierig macht. Womöglich haben unsere Vorfahren zunächst auch nur Linien in den Sand gezogen. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Natascha Adamowsky sagt: „Musik und Spiel hängen eng zusammen. Eine Kultur, die eine Flöte hat, kennt auch das Spiel.“ Und sie berichtet, dass es frühe Knochen vom Sprunggelenk eines Hammels mit Kerbungen gibt. Ob es religiös oder spielerisch gebrauchte Gegenstände sind – wer weiß das heute schon genau: „Die frühesten Spielzeugnisse, die wir haben, kommen bereits aus Hochkulturen, z.B. das ägyptische Mühle-Spiel.“

Friedrich Schiller sagt:

„Der Mensch spielt nur, wo er in der vollen Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Für viele liegt die Faszination eines Spiels vor allem darin, dass sie sich seinen spezifischen Regeln unterwerfen müssen. Für Deutschlands erfolgreichsten Spieleautor Wolfgang Kramer, mehrfach ausgezeichnet mit dem ‚Spiel des Jahres‘ und dem ‚Deutschen Spiele Preis‘, gehören deshalb Spielmaterial und Spielregel zusammen: „Die Spielregeln sind die Grenzen und das Herz eines Spiels.“ Für ihn sind das Spielen mit Puppen, Eisenbahnen oder Kaufmannsläden deshalb auch keine Spiele im engeren Sinne – weil hier keine Regeln gelten.

Für andere ist jedes Spiel das reinste Vergnügen. Die bereits erwähnte Natascha Adamowsky spricht schon von spielerischen Formen, „wenn der Säugling anfängt zu experimentieren und Vergnügen dabei empfindet.“ Daneben gibt es sehr komplexe Spiele: „Wir erfinden für unsere intellektuelle Höchstleistung gern Spiele, um diese eigene Intelligenz beweisen zu können. Aber das Spiel selber liegt weit vor dem Schach, dem Go oder anderen komplizierten Kulturleistungen.“ Historisch spielt Kleidung eine wichtige Rolle. Sie diente nicht nur als Witterungsschutz oder zum Markieren von Stammesrangfolgen, sondern auch zum Verkleiden. Natascha Adamowsky: „Das Sich-verkleiden ist ein Grundpfeiler des Spiels. Das Tragen von Masken, das Sich-in-Szene-setzen steht ganz am Anfang von menschlichen Spielritualen.“ Computerspiele nutzen in interaktiven Rollenspielen diese Art der Spielsucht: Man kann sich einloggen als Bienenschwarm oder Ali Baba oder als Zweimetermann mit Schnurrbart. Wenn man das im realen Leben tatsächlich spielen wollte, müsste man viele Requisiten mitbringen.

Alter Kreisel © charmboyz/123rf.com

Bei manchen Spielen aber fragt man sich auch: Was soll das? Welchen Zweck verfolgt das? Kulturanthropologen definieren Spiel als Sphäre der Freiheit; Spiel wird dementsprechend als ein Ort gedacht, an dem es keinen Zweck gibt. In unserem Alltag ist oft zu beobachten, das Leute spielen und damit sehr unterschiedliche Zwecke verfolgen. Der Glücksspieler spielt, um zu gewinnen. Andere spielen, um sich zu profilieren. Bei Lernspielen weiß man, dass man lernt. Manche Spiele haben repräsentative Zweck, andere dienen der nationalen Selbstdarstellung.

Heute erscheinen uns Spiele beinahe als kulturelle Archive. Grundformen haben sich über die Jahrhunderte erhalten, wenn auch in einem wechselndem Gewand.

Nehmen wir das Gänse-Spiel aus der Zeit der Französischen Revolution. Das spielt heute kein Mensch mehr. Aber Brettspiele, bei denen man wie beim Gänse-Spiel vorrücken muss, gibt es bis heute in -zig Varianten. Andere Spiele wandern von Kontinent zu Kontinent und ändern ihre Funktion. Auf den Philippinen gibt es Spiele, die werden nur in der Nacht der Totenwache gespielt. Die Spieleformen sind stabil, die kulturellen Ausprägungen aber geographisch und historisch sehr verschieden.

Für Adamowsky sind die Spielstrukturen schon seit 20 000 Jahren ausgereizt: 

„Die restliche Zeit haben wir mit Variationen verbracht.“

Wer weiß schon, wie alt selbst die Spiele der 70er und 80er Jahre sind – Gummitwist, Topfschlagen, Hüpfspiel oder Schangeln? Es gibt sie immer noch, sie heißen nur anders und sie warten weiter in der Nische auf ihre Wiederentdeckung. Wirklich neu ist indes, dass einige Spiele oder Spielgeräte wie aus dem Nichts zum weltweiten Phänomen werden. Gepusht von der Industrie, ermöglicht durch die Globalisierung. Erinnern Sie sich noch an Super-Mario? Anfang der 1990er verbrachten viele junge Leute die meiste Zeit des Tages im Super-Mario-Land, schickten den Klempner auf dem Game Boy durch dutzende Level, um die entführte Prinzessin zu retten.

Ende der 1990er kam Tamagotchi. Das frisch geschlüpfte Pixel-Küken brauchte ständig Aufmerksamkeit. Das Ersatzhaustier für Großstädter war ein Megaerfolg. Wenn nur nicht das ständige Gefüttere und Gewasche gewesen wäre. Die meisten, ja im Grunde eigentlich alle, haben als Ersatzeltern kläglich versagt. Der Frust darüber war so groß, dass das piepsende Ding mit dem Tamagotchi millionenfach in die Schublade kam. Das war nach dem viel ruhigeren Monchichi. Es begeisterte in den 1980ern Klein und Groß. Seidenweiches Fell, knubbelige Füßchen, Stupsnäschen, am Daumen nuckelnd, rosa Lätzchen und blaue Augen. Himmlisch!

Ganz anders hingegen der Zauberwürfel. Wer zum Himmel hat uns den angetan? In 43 Trillionen Positionen lässt er sich stellen. Vor 40 Jahren löste er einen Hype aus. Noch viel älter ist das Jojo-Virus. Unverwüstlich, denn es kommt irgendwie immer wieder. In den 1980ern, zuletzt 2003. 1740 war das „Joujou de Normandie“ erstmals aufgetaucht und hatte die erste Trendwelle ausgelöst – selbst feine Pariser Damen ließen aus ihren zarten Händen galant ein Jojo abrollen. Das Ding ist der Beweis dafür, was ein wirklich geniales Spielzeug ausmacht: Es widersteht der Zeit. Auch Pokémon erlebte seine Wiederauferstehung. Allerdings nur kurz – für ein paar Monate als Pokémon Go im letzten Sommer. Dann war es schon wieder vorbei und wurde vom Fidget Spinner abgelöst. Und wenn Sie das lesen, ist der Spinner garantiert auch wieder out.

Doch die Frage ist: Wie und vor allem warum entstehen so plötzlich solche Trends? Zukunftsforscher Tristan Horx hält es eher für einen Hype: 

„Der Fidger Spinner ist nichts weiter als ein Produkt geschickten Marketings. Es ist etwas, das raketenartig aufkommt und genauso schnell wieder verschwindet. Ähnlich wie es bei Pokémon Go war.“

In diesem Fall glaubt er, dass der Spinner genau in die Zeit passte: „Es ist ein motorisches Spielzeug in einer virtuellen Welt und deshalb ein krasser Gegensatz. Nur deshalb hatte er für einen Wimpernschlag in der Spielgeschichte seine große Stunde.“

So betrachtet können wir relativ sicher sein, dass der Handkreisel irgendwann seine Renaissance feiern wird. Irgendwann kommt jeder Trend wieder.

Autor: juj