77. Ausgabe, 2. Quartal 2020

Datenübermittlung aus der Steinzeit

Dr. Heike Christiansen, Amtsärztin im Landkreis Harz
Dr. Heike Christiansen, Amtsärztin im Landkreis Harz

Wie die Pandemie die Einführung von DEMIS beschleunigt

Es war der 16. März 2020, als Lars Schade, Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, eher beiläufig erwähnte, dass die Landesbehörden die Fallzahlen teils noch per Fax an sein Institut schicken. Datenexperten sprechen in solchen Fällen von „Datenbruch“: Digital vorliegende Daten werden analog verschickt und dann wieder von Hand digitalisiert.

Kann es wirklich sein, dass in Asien Milliarden individueller Daten sekündlich gesammelt, geclustert und ausgewertet werden, aber im vermeintlich hochentwickelten Deutschland eine Behörde mühsam die Zahlen von infizierten, schwerstkranken, verstorbenen und wieder genesenen Covid-Patienten teilweise per Fax einsammelt und am Ende seine Schlussfolgerungen daraus erst mit einer Woche Verzögerung zieht? Der „Server“ wollte es genau wissen und recherchierte in deutschen Gesundheitsämtern. Erste Station Halberstadt. Der Fachbereich Gesundheit ist für den gesamten Landkreis Harz, inklusive der Städte Halberstadt, Wernigerode und Quedlinburg zuständig.

Amtsärztin Dr. Heike Christiansen erklärt die Art und Weise der Datenerfassung:

„Der Verdacht, die Erkrankung und der Tod an SARS-CoV2 wird durch die behandelnden Ärzte und die untersuchenden Labore an das Gesundheitsamt gemeldet. Dies geschieht stets in Schriftform, also tatsächlich per Fax oder E-Mail.“

Das Amt wiederum meldet die bestätigten Fälle an das Land und zeitgleich an das Robert Koch-Institut. Erst in der Landesverwaltung von Sachsen-Anhalt werden die Fälle in die RKI-Surveillance-Software surv-net eingegeben.

Sachsen-Anhalt mit hohem Digitalisierungswert
Das Nachrichtenportal „heise online“ stutzte am 16. März über die Aussage von Lars Schade und fand heraus, dass die Übermittlung an die zuständige Landesbehörde und an das Robert Koch-Institut stringent nach § 11 des Infektionsschutzgesetz (IfSG) läuft. Demnach sammeln die Gesundheitsämter der Kommunen und Regionen die Daten und schicken sie dann, gegebenenfalls nach Büroschluss, irgendwann am nächsten Arbeitstag an die zuständige Landesbehörde. Die macht das Gleiche, sammelt erst und schickt die Daten gegebenenfalls nach Büroschluss irgendwann am nächsten Arbeitstag an das RKI. Das sammelt die Daten und veröffentlicht diejenigen mit Stichzeitpunkt 15 Uhr gegen Abend auf ihrer Website. „heise online“ wertet das als „Meldestrukturen aus der Steinzeit“. Eine gemeinsame Datenbank oder zumindest Google-Spreadsheets? Fehlanzeige!  Dem Robert Koch-Institut wurde das auch bald zu bunt und es stellte die Landesbehörden quasi an den Pranger. Und zwar, indem es von jedem Land veröffentlichte, wie viele Datensätze elektronisch übermittelt wurden und wie viele das RKI selbst eintippen musste. Sachsen-Anhalt kam dabei auf 85,1 Prozent, Schusslicht war Baden-Württemberg mit 63,4 Prozent elektronische Übertragungsquote. Seit Beginn der Pandemie reiben sich die Deutschen über die unterschiedlichen Zahlen von RKI und privater Johns-Hopkins-Universität die Augen. Ausgelöst durch Melde-Verzögerungen, die aber alles andere als Zufall sind, wie Recherchen der renommierten Webseiten-Redaktion von „Netzpolitik.org“ zeigen.

Zum Zeitpunkt der Meldung der örtlichen Gesundheitsämter sind die wichtigsten Daten anonymisiert, u.a. die Angaben der zuständigen Ärztin wie u.a. Kontaktdaten des Betroffenen. Möglich ist das nur, weil Gesundheitsämter zuvor täglich jede neue Meldung aufbereitet haben – von Hand. In ganz Deutschland sitzen also dieser Tage Menschen vor Computern und werten Faxe aus, mitunter auch E-Mails oder Telefongespräche. Ein ziemlich hoher Aufwand.

Kontaktverfolgung per Telefon
In Halberstadt rufen die Behörden selbst alle COVID-19-Erkrankten an und befragen sie, so Amtsärztin Dr. Heike Christiansen: „Die Kontaktpersonennachverfolgung erfolgt auf telefonischem Weg. Die Kontaktpersonen erstellen zusätzlich Listen ihrer relevanten Kontakte der letzten 14 Tage und leiten diese bei Bedarf an unser Gesundheitsamt weiter. Alle positiv getesteten Personen und die Kontaktfälle werden bei uns in einer elektronischen Kartei geführt und hier bearbeitet. Auf diese Kartei und auch die entsprechende Kartei der Kontaktpersonen haben die Mitarbeiter der Hygiene/Infektionsschutz und die bearbeitenden Teams des Gesundheitsamtes elektronisch Zugriff. Besonderheiten nach Hausbesuchen der unter Quarantäne stehenden Personen werden ebenfalls dort vermerkt. Zusätzlich muss noch für jede Person einzeln eine Papierakte geführt werden.“

Wer nicht abnimmt, wird angeschrieben und um Rückmeldung gebeten. Häufig sind die von den Hausärzten übermittelten Angaben jedoch unvollständig. Ein Hindernis, das auch Gesundheitsämter in Bremen, München, Hamburg oder Saarbrücken beklagen. Eigene Mitarbeiter müssen dann recherchieren, was zusätzlich Zeit kostet.

Vier Jahre alter Meldebogen
Eigentlich gibt es auch für Ärzte ein vorgefertigtes Formular. Aber viele Mediziner nutzen es nicht, da es ihnen zu kompliziert ist. Es ist dasselbe Dokument, das auch für alle anderen meldepflichtigen Krankheiten ausgefüllt werden soll. COVID-19 steht ohnehin nicht drauf, der Meldebogen ist fast vier Jahre alt. Trotz Pandemie und zehntausenden Fällen in ganz Deutschland. Ärzte wünschen sich einfachere Formulare, die auf das Coronavirus bezogen sind und gleich alle wichtigen Angaben abfragen.

Da stellt sich die Frage, was aus dem digitalen Meldesystem geworden ist, das vom Bundestag bereits vor Jahren beschlossen wurde und an dem seit 2016 gearbeitet wird? Das Projekt Deutsches Elektronisches Melde- und Informationssystem, abgekürzt DEMIS, sollte eigentlich erst Ende 2020 umgesetzt werden, sodass von 2021 an alle Meldungen digital erfolgen sollten. Das Coronavirus hat den Zeitplan nun kräftig durcheinandergewirbelt. „Geplant ist eine erste Umsetzungsstufe von DEMIS (DEMIS-Sars-CoV-2) innerhalb weniger Wochen“, kündigt eine Sprecherin des Robert Koch-Instituts auf Anfrage an.

In dieser ersten Stufe geht es um die Kommunikation zwischen den Laboren und den Gesundheitsämtern. Die Ergebnisse sollen von den Laboren elektronisch gemeldet werden. „Dadurch wird der Aufwand bei der Übermittlung der Meldung für die Labore und der Aufwand bei der Meldungs- und Fallbearbeitung aufseiten der Gesundheitsämter deutlich reduziert“, so die Sprecherin. Zudem könnten die Informationen dann schneller an die Landesbehörden und das RKI übermittelt werden. Nach und nach sollen bei der stufenweisen Einführung auch die weiteren Komponenten von DEMIS ergänzt werden, sodass das Gesamtprojekt wahrscheinlich früher als geplant gestartet werden kann. In den Gesundheitsämtern dürfte die Nachricht, dass DEMIS vorgezogen wird, auf Erleichterung stoßen. „Aus Sicht des Gesundheitsamtes würde das geplante Meldesystem das Verfahren verbessern und beschleunigen“, so die Pressestelle der Stadt Stuttgart.

Frühwarnsystem schlägt verspätet an
Die teils stark verspäteten Meldedaten gefährden inzwischen die Effektivität des Frühwarnsystems, das auf bis zu 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner festgelegt ist. Datenjournalisten des Bayrischen Rundfunks haben vom
1. April bis zum 20. Mai 2020 die tagesaktuellen Corona-Datensätze des Robert Koch-Instituts analysiert. Ergebnis: Das Warnsystem funktioniert regional unterschiedlich. Grund ist, das von den ersten Symptomen bis zur Meldung beim Gesundheitsamt in fast 40 Prozent der bayrischen Landkreise durchschnittlich mindestens eine Woche vergeht, manchmal sogar noch länger.

Auch der zweite Schritt der Meldekette weist  Verzug auf, wenn auch weniger. Von den Gesundheitsämtern zum RKI sind im Infektionsschutzgesetz maximal zwei Arbeitstage vorgesehen. Nach der Auswertung des Bayrischen Rundfunks benötigten über 8.000 Fälle drei Arbeitstage oder mehr, um in der RKI-Tabelle aufzutauchen.

autor: juj