78. Ausgabe, 3. Quartal 2020

Die große Flucht vor dem Virus

Was bleibt vom Home-Office-Boom nach der Corona-Pandemie?

In der Coronakrise war Home-Office scheinbar die Lösung des Problems. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BIB) arbeiteten im April 23 Prozent der Beschäftigten überwiegend von zu Hause aus. 2018 waren nur 5,3 Prozent der Beschäftigten mindestens die Hälfte ihrer Arbeitstage im Home-Office, weitere 6,7 Prozent arbeiteten in geringerem Umfang von zu Hause aus.

Doch was bleibt von dem Boom? Die Forscher des BIB ziehen dafür die sogenannte Mannheimer Corona-Studie zu Rate, eine der ersten repräsentativen Befragungen zum Leben während der Coronakrise. Dafür wurden in der Woche vom 17. bis zum 24. April 3600 Teilnehmer befragt. Dabei kam heraus, dass sich 42 Prozent ihren Job zumindest gelegentlich am heimischen Schreibtisch zutrauen. Auch das Münchener Ifo-Institut rechnet damit, dass der Trend zum Home-Office die Coronakrise überdauern wird. 54 Prozent der Betriebe erwarten, dass diese Arbeitsform dauerhaft zunimmt, wie eine Befragung bei rund 7300 Unternehmen ergab.  

Angesichts dieser Entwicklung spricht Cydney Roach vom US-Beratungsunternehmen Edelman von einer „Revolution“, ausgelöst von einer „geänderten Denkweise“ in den oberen Etagen der Bürotürme: „Die Corona-Pandemie hat schlagartig klargemacht, dass Heimarbeit unktioniert.“ Das belegt auch eine Umfrage des Immobilienriesen Cushman & Wakefield, für die im April weltweit 300 Unternehmen befragt wurden. Ergebnis: 89 Prozent gehen davon aus, dass sich der Trend zum Home-Office fortsetzt.Clare Lyonette und Beate Baldauf, Wissenschaftlerinnen an der britischen Universität Warwick, glauben, dass dies den Unternehmen nur recht sein wird: Die horrenden Büromieten in Innenstädten, aber auch eine höhere Produktivität oder sinkende Fehlzeiten der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind gute Argumente. Apropos Produktivität: Das Technologieunternehmen NordVPN, das für Telearbeit nötige VPN-Zugänge anbietet, fand heraus, dass die Angestellten während der Coronakrise zu Hause massiv Überstunden machen. In Frankreich saßen sie im Schnitt zwei Stunden, in den USA sogar drei Stunden länger am Rechner – pro Tag.

Wie sich das Home-Office in der Magdeburger Stadtverwaltung verändert hat, wollte der „Server“ im Interview von Regina Mittendorf, Fachbereichsleiterin Personal und Organisationsservice, in Erfahrung bringen.

Autor: juj

NACHGEFRAGT: Home-Office ist interessant geworden

Regina Mittendorf

Fragen an Regina Mittendorf, Fachbereichsleiterin Personal und Organisationsservice der Stadtverwaltung Magdeburg

Wie viele Mitarbeiter gibt es in der Magdeburger Kernverwaltung?
Um die 2.800 – die Zahl schwankt immer ein wenig.

Und wie viele von ihnen konnten sich bisher für das Home-Office erwärmen?
Seit 2012 haben wir eine Dienst-Vereinbarung mit der Personalvertretung zum Home-Office in der Stadtverwaltung. Dieses Angebot haben vor Corona um die 50 Mitarbeiter, das sind zwei Prozent der Beschäftigten, genutzt. Die Motive waren bisher fast immer temporäre familiäre Situationen, z. B. wenn ein Angehöriger gepflegt werden musste bzw. das Kind oder der Partner längere Zeit krank waren.

Wie hat sich das im Corona-Frühling 2020 verändert?
Einschneidend. Wir haben uns ja Maßnahmen überlegen müssen, wie wir die Verwaltung am Laufen halten, ohne das Risiko von Infektionen einzugehen. Also haben wir Teams so geteilt, dass sie sich nicht begegnen, um im Fall der Fälle noch arbeitsfähig zu sein. Ein probates Mittel war natürlich das Home-Office. Zum Höhepunkt der Pandemie, also im April, arbeiteten 29 Prozent der Stadtbediensteten von zu Hause aus.

In welchen Fachbereichen ist das Home-Office unpraktikabel?
Ich sag mal so: Brände kann man ebenso wenig von zu Hause aus löschen wie den Streifendienst der Stadtordner erledigen, die ja in der Coronazeit nicht gerade wenig zu tun hatten. Etwa 30 Prozent unserer Mitarbeiter erledigen Aufgaben, die im Home-Office nicht umsetzbar sind.

Konnte die Stadt alle notwendigen technischen Voraussetzungen für das Home-Office erfüllen?
Im Home-Office dürfen ausschließlich Dienstgeräte genutzt werden. In aller Eile haben wir rund 270 Notebooks angeschafft, 680 VPN-Zugänge neu eingerichtet, 700 FilR-Zugänge und ca. 1.000 WebAccess-Zugänge geschaffen. An dieser Stelle sei mir ein herzliches Dankeschön an unseren IT-Dienstleister KID gestattet. Die Mitarbeiter der Beschaffung und im Service-Desk haben uns großartig zur Seite gestanden. Auch bei der Beschaffung der Notebooks hat uns die KID sehr engagiert unterstützt. Wobei mich die Beschaffung von Notebooks, die plötzlich zu vielgesuchter Bückware wurde, auch ein bisschen an das Feilschen auf einem orientalischen Basar erinnert hat. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Damit ist nicht die KID gemeint, sondern die Zwischenhändler.

Die Preise explodierten über Nacht?
Das marktwirtschaftliche Grundprinzip von Angebot und Nachfrage war hier in Reinform zu bewundern. Dank traditionell guter Kontakte der KID konnten wir eine Lieferung vom „letzten Schiff aus China“ ergattern. Der Preis war zwar höher als üblich, aber noch nicht jenseits von Gut und Böse ...

Worauf haben Sie mit Blick auf den Datenschutz besonderen Wert gelegt?
Wir sind in Absprache mit der KID auch einige Kompromisse eingegangen, da die Zahl der Dienstgeräte natürlich nicht mit der Zahl der Home-Office-Mitarbeiter identisch war. Bei Arbeitsaufgaben, bei denen keine personengebundenen Daten notwendig waren, haben wir ausnahmsweise auch private Geräte zugelassen. Da gelangte in Einzelfällen auch mal die eine oder andere Werbemail ins Netzwerk, was aber keine sicherheitsrelevanten Auswirkungen hatte. Jetzt fangen wir die Ausnahmeregelungen nach und nach wieder ein und drehen den Gebrauch privater Geräte zurück. Außerdem hat unser IT-Partner VPN-Tunnel für Fachanwendungen, Citrix-Zugänge für Standesamtsmitarbeiter oder Desktop-Visualisierungen eingerichtet. Das lief alles komplett unkompliziert und geräuschlos.

Wie hat der Personalrat reagiert? War er eher Förderer oder Bremser?
Wir haben das Glück, dass es da ein sehr kooperatives Miteinander gab. Der Personalrat war während des Shutdowns an allen Projekten, Maßnahmen und Entscheidungen beteiligt. Er hat mit Bedenken und Anregungen dafür gesorgt, dass beide Seiten mit den Maßnahmen leben konnten und sie am Ende mittrugen.

Welche Folgen wird das vermehrte Arbeiten im Home-Office haben?
Ich denke, dass sich viele Mitarbeiter ausprobiert und festgestellt haben, dass Home-Office in bestimmten Lebenslagen gar nicht so schlecht ist. Bemerkenswert finde ich, dass die Nachfrage nach der Einführung des Dokumenten-Management-Systems (DMS) deutlich gestiegen ist. Selbst Bereiche, die man bei technischen Neuerungen bisher eher zum Jagen tragen musste, möchten plötzlich Vorreiter sein. Die Arbeit im Home-Office hat offenbar die Erkenntnis befördert, dass es einfach praktikabler ist, im Netz jederzeit alle Akten, Vorgänge und Dokumente greifbar zu haben als umständlich Akten mit nach Hause zu nehmen. Ganz abgesehen von der unnützen körperlichen Anstrengung ...

Ist die Produktivität der „Heimarbeiter“ im Vergleich zur Arbeit im Amt höher oder niedriger?
Eindeutig höher – das war für mich auch die größte Überraschung. Wenn Mitarbeiter die Kinder zu Hause betreuen oder beim Homeschooling unterstützen müssen, fehlt zwar auf den ersten Blick die Zeit, auf den zweiten aber wird Arbeitszeit verlagert. Dann wird eben gearbeitet, wenn die Kleinen im Bett sind. Während der Corona-Pandemie ist unser durchschnittlicher Krankenstand von nachweisbar 8 auf 6 Prozent gesunken. Ich erkläre mir das so, dass es eine Vielzahl von Krankheiten gibt, die einen kompletten Bürotag ausschließen, ein paar Stunden im Home-Office aber durchaus zulassen. Ich habe z. B. einen Mitarbeiter, der an Gicht leidet. Hin und wieder hat er Schübe und derart starke Knieschmerzen, dass er nicht mit dem Auto zur Arbeit kommen kann. Ein paar Stunden zu Hause aber ist die Arbeit am Computer für ihn machbar.

Wie sehen Sie die Zukunft von Home-Office in der öffentlichen Verwaltung?
Ich denke, dass zwischen 20 und 40 Prozent der Mitarbeiter Interesse am Home-Office haben. Sicher nicht dauerhaft, denn der Mensch ist ja ein soziales Wesen und braucht die Gemeinschaft und den Austausch am Arbeitsplatz. Auch für uns als Arbeitgeber ist Home-Office ein Gewinn.
 
Warum?
Die Stadt zahlt pro Jahr rund 11 Millionen Euro Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall. Ist die Senkung des Krankenstandes aus der Corona-Zeit nachhaltig, könnten wir theoretisch 2 Prozent einsparen – dafür lohnen sich ganz sicher Investitionen in Technik fürs Home-Office.

Autor: juj