
57. Ausgabe, 2. Quartal 2015
Digitales Wissen für die Nachwelt erhalten
Kommunen sind gefordert, digitales Wissen für die Nachwelt zu erhalten
Omas Hochzeitsfoto oder ein Bild mit Opas erstem Motorrad findet sich, fein säuberlich eingeklebt, im Fotoalbum wieder. Als Fotografieren noch etwas Besonderes war, sortierte man Bilder mit Inbrunst. Heute knipst jedes Handy wild um sich. Doch nur jedes zehnte Foto wird ausgedruckt – der Rest verschwindet im digitalen Nirvana. Und damit ein Teil unseres Lebens, unserer Kultur, unseres Wissens. Im Großen ist es nichts anderes –
Archiven droht der digitale Kollaps und dem 21. Jahrhundert das Schicksal der alten Etrusker: Vergessen im Zeitenlauf. Von uns wird man in 1.000 Jahren nicht viel mehr wissen als das, was auf unseren Grabsteinen steht. Oder kommt alles doch ganz anders?
„Ein Großteil unseres Wissens der letzten 20 Jahre besteht fast nur noch in digitalisierter Form“, sagt Professor Tilo Balke, Leiter des Institutes für Informationssysteme an der TU Braunschweig. Wissenschaftliche Schriften, Romane, unzählige Blogs – wer heute etwas veröffentlicht, tut das meist digital. Schließlich ist es sehr viel einfacher, eine Datei im Internet hochzuladen, als einen Verlag oder eine Zeitung zu überzeugen, den Beitrag zu drucken.
„Aber was geschieht, wenn jemand mal den Stecker zieht?“ fragt Balke. Dann ist die Website nicht mehr erreichbar und das darauf enthaltene Wissen verloren – für immer. In etwa so, wie die erste Website, mit der die Landeshauptstadt Magdeburg Anfang der 1990er Jahre ins Netz ging. Niemand hat sie je archiviert, es existiert nicht einmal ein Bildschirmfoto. Wenn kommende Generationen wissen möchten, was Sachsen-Anhalts größter Stadt in der Geburtsstunde des digitalen Zeitalters wichtig war, schauen sie ins Nichts.
„Digital Dark Age“ nennen Balke und anderer Experten die Entwicklung der letzten 20 Jahre – das dunkle Zeitalter. Und das ist nicht nur eine Frage der Auswahl, sondern vor allem eine Frage der Technik. Viele Experten fürchten, dass die Historiker und Archäologen der Zukunft nur sehr spärlich auf die heutigen zeitgenössischen Quellen zurückgreifen können, die wir in Massen produzieren: Digitale Fotos, E-Mails oder Blogs werden dann nicht mehr existieren. Grund: Die Lebensdauer der heutigen Informationsspeicher ist kurz. Und so könnte unsere Epoche einmal als das „finstere 21. Jahrhundert“ eingehen, wie das US-Archivprojekt „Memory of Mankind (MOM)“ warnt:
„Außer unseren Grabsteinen werden keine weiteren Informationen für die Nachwelt erhalten bleiben!“
Das digitale Vergessen ist die größte Bedrohung für alle unsere Daten. Ein Kinofilm aus den 1920er-Jahren oder die alte Schallplatte von Opas Dachboden sind heute noch abspielbar. Moderne CDs und DVDs hingegen sind schon nach wenigen Jahren nicht mehr funktionsfähig. Auch von defekten Festplatten verschwinden Millionen wertvolle Informationen im digitalen Nirvana. Ganz zu schweigen von den tausenden Fotos von Urlauben, Weihnachtsfesten und Familienfeiern, die mit dem alten Smartphone in die hinterste Ecke der Schreibtischschublade wandern, sobald nach ein bis zwei Jahren ein neues angeschafft wird. Omas Fotoalbum hingegen steht bis heute im Regal. So demokratisch und hilfreich das Internet als Plattform und Spiegel unserer Zeit sein mag, so anfällig ist das Netz. Prof. Balke: „Man stelle sich vor, eine Seite wie Facebook würde von heute auf morgen schließen. Sämtliche Informationen wären verloren.“ Praktisch gesehen wäre das zwar undenkbar, aber möglich.
Da trifft es sich gut, dass es NOCH klassische Archive gibt, die ein wenig altmodisch erscheinen, weil sie etwas tun, was kaum noch jemand tut: Sie archivieren Akten, Protokollbücher, Ratsbeschlüsse, Karten, Fotos, und darüber hinaus sammeln sie Zeitungen, Bücher, Broschüren, Anzeigenblätter. Warum? Weil die Schriftstücke die Entwicklung der Gesellschaft zuverlässig dokumentieren können. Dr. Maren Ballerstedt steht einer solchen Einrichtung vor – dem Stadtarchiv Magdeburg: „Wir übernehmen pro Jahr etwa 250 laufende Meter Schriftgut, nur ca. fünf bis zehn Prozent davon werden einmal in das Endarchiv übernommen. Rund 7.500 laufende Meter sind derzeit im Endarchiv, im Bauakten- und im Verwaltungsarchiv verwahrt – bislang ausschließlich gedruckt auf Papier.“ Wissenschaftliche Arbeiten, die eine besondere Bedeutung für die Stadtgeschichte haben, werden ausgedruckt und archiviert:
„Alle bisher verfügbaren digitalen Datenträger wie CD und DVDs sind für eine Langzeitarchivierung unbrauchbar. Aber wir arbeiten an dem Problem.“
„Wir übernehmen nur einen Bruchteil der uns angebotenen 200.000 Akten pro Jahr. Maximal zwei bis drei Prozent.“
Er bestätigt zwar die Beobachtung von Dr. Maren Ballerstedt, dass trotz fortschreitender Digitalisierung immer mehr Papier produziert wird, weiß aber auch um die Dringlichkeit digitaler Archivierungsmöglichkeiten: „Die Zukunft ist digital. Andererseits ist eine Langzeitspeicherung nur sinnvoll, wenn die Daten systemisch immer wieder auf neueste Datenformate umkopiert werden können und solche Eingriffe auch lückenlos dokumentiert werden. Wir sind dabei, genau so etwas zu konzipieren.“ Wichtig für einen Mann wie Lusiardi ist dabei die Bewahrung des archivarischen Grundprinzips: Entstehung und Veränderungen einer Akte müssen nachvollziehbar bleiben. Will sagen: Wird in Papierakten etwas verändert, ist dies für alle Zeiten sichtbar, in e-Akten nicht. Deshalb sind Metadaten zu speichern, um mögliche Manipulationen nachverfolgen zu können.
Zweifellos: Die öffentlichen Archive haben sich auf den Weg gemacht. So gibt es zahlreiche Handreichungen, Seminare und Empfehlungen. Auch zur Speicherung von kommunalen Webseiten. Die ist von der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag von 2010 erarbeitet worden und kursiert seitdem durch die Rathäuser des Landes. Ein Jahr später widmete sich die Konferenz auch der Technik. Denn neben der Auswahl dessen, was wir unseren Nachfahren an Informationen über uns hinterlassen wollen, spielt das Speichermedium natürlich die entscheidende Rolle. Größte Herausforderung dabei sind Datenbanken, dynamische Fachanwendungen, Webseiten mit Content-Management-Systemen – alles digitale Informationen, die permanent aktualisiert werden. Wann ist eine Speicherung sinnvoll? Einmal jährlich, jedes Quartal, einmal pro Woche oder doch lieber täglich? Und wann am Tag? Morgens, mittags oder doch besser um Mitternacht?
Deutschlands Archive und Behörden stehen ganz am Anfang und vor einem Berg an Fragen. Sachsen-Anhalt überarbeitet derzeit das Landesarchivgesetz, das sich diesem Thema künftig stärker stellt. Dennoch fürchten Archivare wie Prof. Ulrike Höroldt, dass gerade in der jetzigen Übergangszeit eine Menge Wissen verloren geht. Dr. Ballerstedt ist „traurig über den Verlust“, freut sich aber andererseits über die größeren Möglichkeiten der digitalen Archivrecherche von jedem Ort der Welt aus: „Einen Vorgeschmack darauf bietet das Archivportal D, dem unser Stadtarchiv und das Landeshauptarchiv zuliefern.“
Aber auch dieses Portal wird am Ende nicht verhindern, was in der Menschheitsgeschichte fast immer eintrat: Die ersten Jahre neuer Medien gingen oft verloren. Weite Teile der Anfänge des Radios sind verschollen, ebenso frühe Filme und Fernsehsendungen. Denn wann immer eine neue Technik aufkommt, steht zunächst deren Verwertbarkeit im Vordergrund – und weniger die Bewahrung der neuen Kulturgüter. Mit Blick auf unsere neue digitale Welt wiegt das Problem ungleich schwerer, denn sie bezieht sich nicht nur auf einen eingegrenzten Bereich, sondern das gesamte Leben.
Autor: Jens-Uwe Jahns
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