63. Ausgabe, 4. Quartal 2016
Genossenschaften als Alternative zum Kapitalismus
Mehr Gemeinsinn, weniger Profit – so könnte die Welt eine Zukunft haben
Vor 250 Jahren begann er, die Welt zu erobern. Ganz behutsam, ganz allmählich. Dann immer drängender und schneller. Heute können wir uns ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen: der Kapitalismus. Er bestimmt die Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur, ja sogar das Private. Ein System, das uns zweifellos Wohlstand, Demokratie, bessere Medizin und damit eine längere Lebenserwartung beschert hat. Doch Kapitalismus braucht Wachstum, um zu überleben. Andererseits bringt „Immer schneller, immer weiter, immer mehr“ die Menschheit und die Ressourcen der Erde an ihre Grenzen. Gibt es ein Entkommen aus dem Kreislauf? Könnte das Geschäftsmodell der Genossenschaften dabei helfen?
Die soziale Marktwirtschaft in Deutschland versucht den Ausgleich zu finden. Einen Ausgleich zwischen Arm und Reich, Oben und Unten. Wer mehr hat, muss mehr abgeben. Nicht überall in der Welt funktioniert das so ausgewogen. So hat die britische Wohlfahrtsorganisation Oxfam errechnet, dass 94,5 Prozent des Eigentums derzeit in den Händen von 20 Prozent der Weltbevölkerung liegt. Den verbleibenden Reichtum von etwa 5,5 Prozent teilen sich die übrigen 80 Prozent der Menschheit.
Wie kann man das Eigentum und die Wertschöpfung gerechter verteilen? Bei er Antwort auf diese Frage ist sehr häufig von dem Geschäftsmodell der Genossenschaften die Rede. Wikipedia erklärt es so: „Das zentrale Anliegen von Genossenschaften ist es, gemeinsame wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bedürfnisse zu befriedigen. Weltweit sind mindestens 700 Millionen Mitglieder an Genossenschaften beteiligt …“.
Genossenschaften verbreiten zwei wichtige Botschaften: Die eine behandelt die Bedürfnisbefriedigung, womit weniger eine Bedürfnisweckung gemeint ist. Und die andere ist die beeindruckende Zahl an Mitgliedern. Fast ein Zehntel der Weltbevölkerung arbeitet bereits in Genossenschaften bzw. sind darin Mitglieder. In Europa soll es 140 Millionen Mitglieder in 300.000 Genossenschaften und 2,3 Millionen Arbeitsplätzen geben. Genossenschaften sind wieder „schick“. Besonders zu beobachten seit 2004, als die Kommission der Europäischen Gemeinschaft begann, dieses Geschäftsmodell besonders zu fördern. Viele und erfolgreiche Genossenschaften sind heutzutage in wettbewerbsintensiven Branchen tätig. Und obwohl sie eben nicht die höchstmögliche Verzinsung ihres Kapitals anstreben, haben sie doch erhebliche Marktanteile in Wirtschaftszweigen erzielt, in denen Kapitalgesellschaften sehr stark vertreten sind.
Die EU fördert Genossenschaften, weil „sie u.a. in der Beschäftigungspolitik, der sozialen Eingliederung, der Regionalentwicklung und der Entwicklung des ländlichen Raums sowie der Landwirtschaft einen Beitrag zur Erreichung gemeinschaftspolitischer Ziele leisten.“

Spätestens seit dem Internationalen Jahr der Genossenschaften 2012 wird auch öffentlich stärker wahrgenommen, dass Genossenschaften ihren Charme des Altmodischen längst abgestreift haben. Seit der Anpassung des deutschen Genossenschaftsgesetzes im Jahr 2006 gründen immer mehr Bürger Genossenschaften und setzen die Idee ihrer Urgroßväter („Hilfe zur Selbsthilfe“) fort. In Deutschland findet man z.B. die genossenschaftlich geführte GSL Bank, die sozial-ökonomische Projekte fördert und auf volle Transparenz setzt. Im Energiebereich hat ein regelrechter Boom eingesetzt, nehmen doch immer mehr Menschen ihre Energieversorgung in die eigene Hand und gründen Genossenschaften. Ihr Ziel: Strom und Wärme ohne Atom und Kohle. Durchaus begünstigend macht die Tatsache die Runde, dass Genossenschaften zu den insolvenzsicheren Rechtsformen gehören. 2014 betrug die Insolvenzrate eingetragener Genossenschaften nur 0,1 Prozent, während sie bei Kleingewerbetreibenden bei 49 Prozent lag.
Die mehr als 7.500 Genossenschaften und genossenschaftlichen Unternehmen in Deutschland sind längst wichtiger Bestandteil der mittelständischen Wirtschaft. Sie wirtschaften mit langfristiger Perspektive, fördern ihre Mitglieder und sind in der Region verankert. Den größten Anteil machen die über 2.000 Baugenossenschaften aus. Diese verwalten über zwei Millionen Wohnungen und haben mehr als drei Millionen Mitglieder.
Doch es gibt viele weitere – auch ungewöhnliche – Beispiele von Genossenschaften. In Köln begann vor 50 Jahren die Erfolgsgeschichte der ZEG Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft eG. Hans Krämer und Bernhard Lakämper begannen 1966 mit acht Fahrrad-Fachhändlern, inzwischen sind es mehr als 1000 in ganz Europa. ZEG steht heute als Markenname auch für Innovation und hohe Qualität in Material und Service.
Die vielen Gründungen von Energiedienstleistern als genossenschaftliches Unternehmensmodell macht das Beispiel der Bürgerwerke eG, Heidelberg deutlich. Grüner Strom von Bürgern für Bürger zu einem fairen Preis, das ist die Idee der Bürgerwerke eG. Heute ist es ein Verbund von 51 Bürgerenergiegenossenschaften mit rund 10.000 Mitgliedern, die Kunden in ganz Deutschland mit Ökostrom beliefern. Traditionspflege mit Gemeinsinn könnte man die Mainzer Fastnacht eG nennen. Die Motivation der Initiatoren: Kosten und Haftung der auch durch eine TV-Sendung bekannten Veranstaltung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“. Zuvor veranstaltete nämlich der Mainzer Carneval-Verein (MCV) das Großevent am Rosenmontag in Eigenregie und als verantwortliche Organisation. Das Laden- und Kneipensterben in kleinen Dörfern ist kaum aufzuhalten, da es sich für den Einzelnen nicht mehr lohnt. Um die für die Gemeinschaft eminent wichtigen Einrichtungen zu erhalten, werden immer häufiger Genossenschaften gegründet. Die Bürgergenossenschaft Welbergen eG steht dafür als ein Beispiel. In dem kleinen Ort, 40 Kilometer nördlich von Münster, gibt es einen Dorfladen, der gemeinsam von den Einwohnern betrieben wird. Einen Dorfladen betreibt seit 2005 auch die Gottwollshausen-Gailenkirchen eG in Schwäbisch Hall und ist stolz darauf, dass es hier mehr Artikel als beim Discounter gibt.
Die Drop-Out Cinema eG in Mannheim ist ein genossenschaftlicher Filmverleih, der die kulturelle Vielfalt im Kino fördert. Hier stehen cineastische Kriterien an erster Stelle, um so einen Gegenpol zu kommerziellen Filmverleihern zu bilden, die nur an massentauglichen Produktionen und hohen Umsatzrenditen interessiert sind. Ähnlich das Motiv der Programmkino Würzburg eG, die im Juli 2009 das Corso-Kino in Würzburg rettete. Mit Unterstützung der Stadt bildete sich eine Gruppe von Bürgern mit dem Ziel, eine Programmkino-Initiative zu formieren. Selbst eine Brauerei kann genossenschaftlich betrieben werden. Wie in der Bürgerbräu Wächtersbach Braugenossenschaft eG. Unter dem Motto „Lokal. Biologisch. Klimaneutral“ wird seit 2011 in der hessischen Stadt Wächtersbach wieder Bier gebraut. Um einen der Grundstoffe des Gerstensaftes geht es bei der Wassergenossenschaft Ellerhoop eG im holsteinischen Dorf Ellerhoop. Hier betreiben seit über zehn Jahren die Einwohner ihr eigenes Wasserwerk. Gute Qualität, niedrige Preise und wirtschaftliche Unabhängigkeit sind das Ergebnis gemeinschaftlichen Engagements.
Münchner Kommunikationswissenschaftler haben die Sprachraum eG, München gegründet und die Gemeinschaft zur Geschäftsgrundlage ihrer Genossenschaft gemacht. Ihr Credo: „Die Kunst, richtig miteinander zu kommunizieren ist wie laufen lernen – man fällt so oft auf die Nase bis man liebevoll an der Hand genommen wird.“ Die Medizinische Kooperation Görlitz eG ist eine Genossenschaft von niedergelassenen freiberuflichen Ärzten, die in der Zusammenarbeit auf Augenhöhe und der Kooperation mit Berufskollegen Ressourcen sparen und sich fachlich austauschen. Den Mitgliedern geht es vor allem darum, gemeinsam die Kosten bei der täglichen Arbeit zu senken und zugleich die eigene Unabhängigkeit zu erhalten.
Die Vor-Ort-Betreuung in einer Senioren-Wohngemeinschaft wird in Neukirchen b. Hl. Blut von der Senioren-Wohnen eG organisiert. Hinter der Familiengenossenschaft Monheim eG verbirgt sich eine Gruppe von Unternehmen, die für ihre Mitarbeiter eine Kindertagesstätte betreiben.Die kleine Kneipe in der Schwarzwald-Gemeinde Todtnau-Geschwend rettete dasrößle eG. Die Einwohner eröffneten gemeinsam unter dem Dach einer Genossenschaft ihr Dorfgasthaus wieder neu und bewahrten sich so einen Ort für kulturelle Veranstaltungen oder gesellige Abende. Das Stadtmarketing haben in Seesen Kommune, Unternehmen und Bürger gemeinsam für ihre Stadt in die Hand genommen. Die Stadtmarketing Seesen eG beweist, dass eine Genossenschaft sehr wohl in der Lage ist, die Vielfalt der Region neu zu präsentieren und das kulturelle Leben vor Ort zu fördern.
Die PRESORT eG Baden-Baden bündelt für seine Mitglieder den Tagespostausgang, sortiert die Briefe in eigenen Sortierstationen vor, nummeriert sie und liefert die Briefe noch am gleichen Tag bei den Postzentren ab. Darüber hinaus bietet die Genossenschaft ein umfangreiches Beratungs- und Dienstleistungsangebot „rund um den Brief“. Dass man genossenschaftlich hervorragend nach biologisch dynamischen Grundsätzen ökologische Kräuter und Früchte wie Tees, Sirupe, Fruchtaufstriche und Chutneys produzieren kann, zeigt sich in Pulow. Die Kräutergarten Pommerland eG veranstaltet sogar Kräuterseminare, in denen altes Wissen um Wert und Wirkung von Kräutern weitergegeben wird.
Zusammenschlüsse von Historikern (Geschichtswerk eG, Hamburg), Schwimmrettern (Hallenbad Nörten-Hardenberg eG), 17.000 Waldbesitzern (in.Silva eG, Leutkirch im Allgäu) oder Kulturinteressierten (Festhalle Annaberg-Buchholz eG) komplettieren die Palette genossenschaftlicher Aktivitäten. Dass es auch groß geht, zeigt die ANWR GROUP eG, Mainhausen. In dieser Gemeinschaft haben sich mehr als 6.000 selbständige Schuh-, Sport- und Lederwarenfachhändler aus halb Europa zusammengefunden. Sie wehren sich damit gegen die komplette Globalisierung des Handels und der damit einhergehenden Eintönigkeit der Innenstädte. Ihre Antwort heißt Mitmachen und Mitgestalten der Handelsmärkte der Zukunft ...
Autor: juj