
62. Ausgabe, 3. Quartal 2016
Die Altmark nimmt die Digitalisierung selbst in die Hand
Ist Digitalisierung das „Wundermittel“ gegen die Landflucht? Reichen Datenautobahnen aus, um die Dorfstraßen zu beleben? Der Landkreis Stendal nimmt derzeit eine weitere Chance wahr, die „Digitalisierung der Altmark“ zu beschleunigen. 1,5 Millionen Euro aus dem Bundesmodellvorhabens „Land(auf)Schwung“ sollen helfen, dass es im autobahnfreien Landstrich zumindest virtuell flotter vorangeht. Um das Programm mit Leben zu füllen, ist man in Stendal auf der Suche nach Projekten, die sich thematisch der „Nachhaltigen Siedlungsentwicklung“ und „Digitalisierung der Altmark“ zuordnen lassen. Andere Gemeinden versuchen im „Zweckverband Breitband Altmark“ die Interneterschließung zu beschleunigen. Kurz vor Redaktionsschluss hat das Land die Bereitstellung weiterer 200 Millionen Euro Fördermittel angekündigt.

Glaubt man den Prognosen, steht die Altmark vor einem Exodus. Kein anderer Landkreis Sachsen-Anhalts hat seit der Wiedervereinigung mehr Menschen verloren als die Region um Stendal. Und Sachsen-Anhalt ist ohnehin Spitzenreiter beim Bevölkerungsverlust: Ein Fünftel seiner Einwohner sind seit der Wende schon weggezogen. Für das Statistische Landesamt ist ausgemachte Sache, dass die Altmark bis 2025 einen Bevölkerungsschwund von mehr als 25 Prozent im Vergleich zu 2008 erleben wird.
Kommunalpolitiker wie Mandy Zepig (SPD), Bürgermeisterin von Gardelegen, sehen das weniger dramatisch („Diese Prognosen stimmen doch schon seit Jahren vorn und hinten nicht!“) und geben sich vorsichtig optimistisch. Doch sie weiß, was ihre Region dringend braucht: schnelles Internet: „Wer das nicht hat, verbaut sich jede Zukunftsperspektive.“ Jahrelang aber wurde die Altmark von Telekom & Co links liegen gelassen. Auch die Landesregierung ließ die Sache lange laufen. Das führte dazu, dass immer mehr Bürgermeister die Sache selbst in die Hand nahmen. 2012 gründeten 20 Gemeinden den „Zweckverband Breitband Altmark“. Dieser sammelt seither Fördermittel ein, um die Erschließung Dorf für Dorf zu ermöglichen. Ein mühsames Geschäft.
Jede Hilfe ist da willkommen. Wie jüngst die engagierte und erfolgreiche Bewerbung für das Modellvorhaben „Land(auf)Schwung“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL): Es ist ein Baustein des Bundesprogramms „Ländliche Entwicklung“ (BULE) für strukturschwache ländliche Regionen. Öffentliches Geld soll helfen, den demografischen Wandel aktiv zu gestalten sowie regionale Wertschöpfung und Beschäftigung zu sichern und zu erhöhen. Ziel ist, Rahmenbedingungen für unternehmerisch denkende Menschen zu schaffen, damit kreative Ideen umgesetzt werden. Auf den Punkt gebracht: superschnelles Internet als Basis für eine goldene Zukunft.
Zwar kann man statistisch nicht belegen, dass das Schneckentempo der altmodisch-altmärkischen Modem-Verbindungen die Jugend in Scharen aus dem Landstrich treibt. Doch es ist zu vermuten, dass Altmärker, die sich für kreative Köpfe halten, als Onlinehändler oder IT-Spezialisten die Welt erobern wollen, ihre berufliche Zukunft eher im schönen München als in Schönhausen, statt in Bismark in Berlin sehen. Doch Bangemachen gilt nicht, sagt Mandy Zepig und propagiert den Arbeitsplatz der Zukunft überall auf der Welt, also auch bei ihr um die Ecke: „Bald wird es nicht mehr so wichtig sein, wo dein Unternehmen ansässig ist, sondern wie es mit der Welt vernetzt ist. Das Internet macht die Welt zum Dorf. Und der schönste Platz im Dorf ist die idyllische Ruhe am Waldrand. Da kann der Kreative noch kreativer werden.“ Noch aber fehlt der Altmark der Brandbeschleuniger: superschnelles Internet. Schon vor vier Jahren haben sich die Landkreise Stendal und Salzwedel sowie 20 Einheits- und Verbandsgemeinden zum Zweckverband Breitband Altmark (ZBA) zusammengetan. Ziel: bis 2019 flächendeckender Ausbau eines Glasfasernetzes.
So zäh sich die „Digitalisierung der Altmark“ bislang auch hinzog, es ist ein alternativloser Großangriff – nunmehr unterstützt vom „Land(auf)Schwung“. Der Schuss aus allen Rohren ist bitter nötig, wie der Stendaler Landrat Carsten Wulfänger (CDU) bei vielen Gelegenheiten wiederholt: „Wir haben keine Autobahn und kein schnelles Internet. Doch beides sind Grundvoraussetzungen, um den Landkreis wirtschaftlich voranzubringen und für Menschen wieder attraktiv zu machen. Ohne eine schnelle Datenverbindung gibt es in Zukunft keinerlei Entwicklung mehr. Deshalb ist es richtig, dass die Region diese Aufgabe selbst in die Hand genommen hat.“
Finanziell dürften die 1,5 Millionen Euro des Programms „Land(auf)Schwung“ bei der Größe der Aufgabe Peanuts sein, doch es sorgt für frischen Wind in der öffentlichen Wahrnehmung. Vielleicht ist jetzt die Zeit endlich reif, auch dem letzten (traditionsbewussten) Altmärker vor Augen zu führen, dass „nachhaltige Siedlungsentwicklung“ und „Digitalisierung der Altmark“ zwei Seiten einer Medaille sind. Das eine bedingt das andere. Und umgekehrt. Und „zufällig“ stehen beide Themen im Mittelpunkt von „Land(auf)Schwung“. Noch ist man in Stendal in der Frühphase; Unternehmen können sich mit Projektideen für die Fördermittel bewerben.
Kurz vor Redaktionsschluss ließ am 15. August Wirtschaftsminister Jörg Felgner eine Pressemitteilung verbreiten. Inhalt: Um das Landesziel (flächendeckend schnelles Internet bis Ende 2018 in Sachsen-Anhalt) zu erreichen, stellt das Land über mehrere Jahre etwa 200 Millionen Euro zur Verfügung. Noch am gleichen Tag startete er ein neues Förderprogramm für den Breitbandausbau, das mit 40 Millionen Euro aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gespeist wird. Derzeit sei in rund 40 Prozent des Landes schnelles Internet verfügbar. Darüber hinaus können Kommunen bei der Investitionsbank des Landes Unterstützung beantragen. Im Mittelpunkt des jüngsten Programms stünden Gewerbegebiete in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern sowie wichtige Wirtschaftsstandorte in kleineren Kommunen. Weitere Fördermittel gibt es zudem etwa aus einem EU-Programm für den ländlichen Raum und vom Bund.
Ist das der Durchbruch für die ländliche Altmark? An Schwung fehlt es nicht. Den bringen Macher wie Tangerhüttes neuer Bürgermeister Andreas Brohm in die Region zwischen den Flüssen Uchte, Tanger und Elbe durchaus in voller Breitseite ein. Denn der hippe Ortschef geht mit dem Smartphone voran. Was seine Amtsbrüder in den Schaukasten auf dem Dorfplatz aushängen, tippt Brohm lieber in sein Handy. Der Mann twittert und postet, mailt und liked, was der Akku hergibt. Doch er weiß auch, dass seine Botschaften nicht überall ankommen. Ankommen können. Zu groß sind die „Funklöcher“ und glasfaserfreien Gebiete. Er hat also durchaus auch ein persönliches Interesse an einem schnellen Netz bis in den letzten Winkel. Wo er kann, beflügelt er die Digitalisierung seiner Heimat. Erst jüngst war Tangerhütte Gastgeber des Wirtschaftsfestivals „AltmarkMacher“. 500 Leute tauschten drei Tage lang Visionen, aktuelle Projekte und Ideen über die Zukunft der Altmark aus.
Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) war da, um den Kreativen zu empfehlen Fördermittel abzurufen und um den Ungeduldigen das Bleiben nahzulegen: „Gerade kleine und mittlere Unternehmen, von denen es in der Altmark eine Menge gibt, sollten Fördermöglichkeiten noch viel stärker wahrnehmen. Wir haben viele Mittel, die aus diesem Bereich gar nicht abgerufen werden.“ Wie Internetfirmen und ländliche Regionen gemeinsam von aktuellen Entwicklungen profitieren können, machte auf dem Festival Jan Bredack deutlich. Der Gründer von Europas größter veganer Supermarktkette Veganz prognostiziert, dass neue Produkte Chancen für die Landwirtschaft bieten. Er muss es wissen, Bredack ist selbst Altmärker: „Nehmen wir den Anbau von Wirsingkohl. Jahrelang out, jetzt ist er für die Chipsherstellung gefragt.“ Aus nachvollziehbarem Grund: „Bei den Ernährungsprodukten der Zukunft ist Natürlichkeit und Regionalität das A und O.“
Brohm und seine Amtsbrüder träumen nach kompletter Altmark-Digitalisierung von einer boomenden Region, voll mit anspruchsvollen Jobs und innovativen Projekten. Die Altmark, so Mandy Zepig, hat das Zeug, um mit neuen und innovativen Modellen zu einem Vorreiter digitaler Vernetzung für ländliche Regionen zu werden. Sibylle Paetow von der
Stendaler Agentur für Regionalentwicklung „LandLeute“ wirbt um
Protagonisten dafür: „Schnelle Internetleitungen sind das eine, wir brauchen aber dringend auch Menschen, die daraus etwas machen wollen. Leute, die das Werkzeug nutzen, was wir ihnen geben.“ Sie weiß, das Unternehmer nicht auf Bäumen wachsen. Doch nur, wenn es davon genug Junge in der Altmark gibt, zahlt sich die Digitalisierung eines der am dünnsten besiedelten Landstriche der Republik am Ende aus. Dann könnte, wie erhofft, die Altmark zu einer Vorreiter-Modellregion für das Thema Smart Country werden, dann könnten digitale Produktentwicklungen oder Unternehmensgründungen aus der Altmark kommen, dann könnten digitale Angebote und neue Dienste durch regionale Akteure hier in der Altmark erprobt und angewandt werden. Viele „könnten“. Andererseits gibt es berechtigte Hoffnungen, allein durch die Realität geprägt. In einer Region, wo der nächste Arzt viele Kilometer entfernt ist, ist die Entwicklung eines digitalen Gesundheitswesens (E-Health) lebensnotwendig. Wer sagt denn, das die Seniorin zum Blutdruckmessen in die Arztpraxis fahren muss? Würde es nicht schon helfen, wenn sie per Tablet mit dem Doktor kommuniziert, das Gerät Werte aufzeichnet und der Arzt die Monatsration Pillen online zur nächsten Apotheke mit Lieferdienst weiterleitet. Telemedizin ist kein Teufelszeug und neue Services im Gesundheitswesen nichts Verwerfliches. Digitale Angebote können helfen, die kritische Situation der gesundheitlichen und medizinischen Versorgung im ländlichen Raum zu verbessern und langfristig zu sichern. Warum nicht zuerst in der Altmark?
Zweifellos hat die Region große Pläne, wenn erst einmal das Glasfaserkabel bis ins letzte Haus verlegt ist. Und wer weiß, vielleicht verblüffen uns die Altmärker in ein paar Jahren ja tatsächlich mit Innovationen aus den Fachgebieten Digitale Bildung (E-Learning), Digitale Dienstleistungen (E-Commerce), Digitales Engagement, Digitale Verwaltung (E-Government), Digitale Arbeitswelt oder Digitale Wirtschaft (E-Business).
Übrigens: Schnelles Internet bedeutet laut Felgner ein Downloadtempo von 50 Megabit pro Sekunde für private Haushalte und 100 für Unternehmen. Es sei nicht nur wichtig für die Wirtschaft, sondern auch bei Angeboten für die Bürger von der Telemedizin bis zu Heimarbeitsplätzen und elektronischer Kommunikation mit den Behörden.
Weitere Informationen:
www.breitband-altmark.de
www.landaufschwung.landkreis-stendal.de
Autor: juj